"Auch ich will nicht, dass Frauen verschleiert herumlaufen"

Interview, 30. Januar 2021: CH Media; Othmar von Matt und Sven Altermatt

CH Media: "Auf Justizministerin Karin Keller-Sutter wartet viel Arbeit. Sie bringt am 7. März gleich zwei Vorlagen aus ihrem Departement vors Volk: die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und die elektronische Identität (E-ID). Beide sind umstritten."

Hat der Bundesrat einen Plan, wie er die Schweiz dereinst wieder aus dem Lockdown führen will?
Karin Keller-Sutter: Selbstverständlich arbeiten wir auch daran. Dass der Weg aus dem Lockdown mitunter anspruchsvoller ist als der Lockdown selbst, haben wir im vergangenen Jahr gesehen.

In den Niederlanden kam es wegen der nächtlichen Ausgangssperre zu Krawallen. Könnte das auch hier passieren?
Wir sind alle ein wenig coronamüde, vermissen Treffen mit Familie und Freunden oder das Essen im Restaurant. Dass es zu solchen Ausschreitungen kommt, zeigt auch, welche Energie sich gerade bei jungen Menschen aufgestaut hat: Sie wollen raus, sich bewegen. Der Bundesrat hat sich immer für einen Mittelweg entschieden.

Die Gefahr ist in der Schweiz nicht so virulent?
Natürlich gibt es auch bei uns grosse Einschränkungen, die für manche eine existenzielle Bedrohung sind. Aber gleichzeitig haben wir auf ganz strenge Freiheitsbeschränkungen wie Ausgangssperren immer verzichtet. Wissen Sie …

… ja?
Es ist mir bewusst, dass nicht alle Anordnungen des Bundesrats perfekt waren. Das können sie in der gegenwärtigen Situation auch nicht sein. Oft müssen wir zwischen zwei unbefriedigenden Lösungen auswählen. Wir haben uns dennoch immer zu einer durchgerungen, und zwar immer einvernehmlich. Der Bundesrat musste kein einziges Mal über ein Coronageschäft abstimmen.

Bei Auftritten des Bundesrats gibt es eine erhöhte Polizeipräsenz, ebenso wurden Drohbriefe publik. Macht Ihnen dies Angst?
Ich nehme das zur Kenntnis. Aber wenn ich sehe, welch positive Zuschriften der Bundesrat sonst bekommt, bietet sich mir ein anderes Bild. Die Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger versteht, dass wir Entscheide für Land und Volk treffen. Immer wieder werde ich auch auf der Strasse angesprochen, grad gestern Abend in der Berner Altstadt. Zuerst war ich überrascht. Aber die Person wollte dem Bundesrat nur ihren Dank ausrichten.

Die Bedrohungslage hat sich aber offensichtlich verschärft.
Sie hat sich verändert, ja. Dies betrifft aber wirklich nur eine Minderheit, die ganz grosse Mehrheit der Leute verhält sich nicht so.

In einem gemeinsamen Brief forderten sechs Parteichefs Massentests für Grenzgänger. Warum hat der Bundesrat diesen einfach ignoriert?
Wir hatten andere Schwerpunkte. Schon vor Monaten waren wir uns einig: Der kleine Grenzverkehr soll nicht unnötig behindert werden. Die 340000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger arbeiten bei uns im Gesundheitswesen oder in der Industrie, unsere Wirtschaft ist auf sie angewiesen. Die Grenzräume sind auch sozial und kulturell zusammengewachsen. Auch als St. Gallerin habe ich keine guten Erinnerungen an die Grenzschliessungen im vergangenen Frühjahr. Das Dreiländereck ist eng verzahnt.

Haben Sie sich eigentlich wie andere Bundesräte gegen Covid-19 impfen lassen?
Ja, ich bin geimpft.

Im März stimmen wir über die Initiative für ein Verhüllungsverbot ab. Gemäss Bundesrat ist die Gesichtsverhüllung muslimischer Frauen nur ein Randphänomen. Die Initiative hat aber in Umfragen überraschend hohe Sympathien. Ist es doch mehr als ein Randphänomen?
Nein. Laut einer Studie der Uni Luzern tragen etwa 20 bis 30 Frauen in der Schweiz eine Niqab. Ich selbst habe eine solche höchstens mal bei Touristinnen in Interlaken oder Genf gesehen. Eine Burka habe ich in der Schweiz noch nie gesehen. Trotzdem muss ich eines betonen.

Ja?
Ich verstehe die Abneigung gegenüber Gesichtsverschleierungen. Auch ich will nicht, dass Frauen verschleiert herumlaufen. Aber die Frage ist: Braucht es deswegen wirklich ein Verbot in der Bundesverfassung? Allein wegen der geringen Zahl der Trägerinnen ist das nicht notwendig und wir lösen damit auch kein einziges Problem.

Manche sehen die Verhüllung aber als Zeichen des radikalen Islams. Selbst der Bund sagt, dass Frauen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden könnten. Da wäre ein Verbot doch nur konsequent.
Schon heute darf niemand dazu gezwungen werden, sein Gesicht zu verhüllen. Das ist Nötigung und damit strafbar. Bei den 20 bis 30 Betroffenen in der Schweiz dürfte es sich mehrheitlich um Frauen handeln, die bewusst zum Islam konvertiert sind – und vielleicht zu einem gewissen religiösen Übereifer neigen Eine Kleidervorschrift in der Bundesverfassung schafft zudem keine Sicherheit. Radikalisierung und Extremismus können wir wirkungsvoller mit anderen Mitteln bekämpfen.

Bitte.
Es braucht präventive und polizeiliche Massnahmen. Einerseits geht es um die internationale Zusammenarbeit und um Fragen der Sicherheit, mit denen sich etwa der Nachrichtendienst und die Bundespolizei befassen. Andererseits haben wir das Strafgesetz verschärft, um Terrorismus besser verfolgen zu können: Es gibt jetzt eine neue Strafnorm, die zum Beispiel die Rekrutierung potenzieller Terroristen oder Dschihad-Reisen unter Strafe stellt. Und schliesslich wird das Volk noch dieses Jahr über wichtige präventive Massnahmen zur Terrorbekämpfung abstimmen können.

Sind Sie grundsätzlich gegen Verhüllungs- oder Vermummungsverbote?
Nein. Im öffentlichen Raum soll man sein Gesicht zeigen. Wer in unserer Gesellschaft sein Gesicht verhüllt, muss schon gemäss heutigem Recht mit gravierenden Nachteilen rechnen. Es darf auch nicht sein, dass sich jemand vermummt und im Schutz der Anonymität Straftaten begeht. Als St. Galler Polizeidirektorin führte ich daher ein Vermummungsverbot ein, weil wir Probleme mit Chaoten bei Sportveranstaltungen hatten. Dafür muss man nicht die Bundesverfassung ändern. Die Kantone können also schon heute Regeln für Verhüllung oder Vermummung erlassen – und zwar die für sie passenden. Denn: Würde die Initiative angenommen, müssten die Kantone deren Eckwerte umsetzen. Dann wären aber beispielsweise keine Ausnahmen für Touristinnen mehr möglich.

Im März stimmen wir auch ab über die elektronische Identitätskarte (E-ID). Der Staat gibt Pass und Identitätskarte heraus. Weshalb tut er das nicht auch bei der E-ID?
Die E-ID ist weder Pass noch Identitätskarte. Sie dient nur der sicheren Anmeldung im Internet. Mit dem Login erhält man keine besonderen Rechte, wie mit der Identitätskarte. Mit Pass und ID kann man reisen. Oder sich in einer Polizeikontrolle ausweisen.

Lange wollte auch das EJPD eine rein staatliche Lösung. 2016 entschied es sich für eine Teil-Privatisierung. Weshalb?
Man diskutiert die E-ID seit 20 Jahren. 2016 entschied man sich bewusst für die Aufgabenteilung, wie sie heute vorgesehen ist. Das hat auch mit den Erfahrungen anderer Länder zu tun. Wer auf eine rein staatliche Lösung setzte, hatte keinen Erfolg. Deutschland ist das Paradebeispiel dafür. Die deutsche E-ID hat heute gerade sechs Prozent Nutzer. Deutschland strebt nun ein partnerschaftliches Modell an, wie es die Schweiz will.

Kanzlerin Merkel hat die E-ID zur Chefsache erklärt. Sie will weiterhin eine staatliche Lösung. Die Unternehmen sollen aber helfen, dass die ID zum Erfolg wird.
So gesehen haben auch wir eine staatliche Lösung. Der Staat spielt eine sehr starke Rolle. Er ist Herr der Daten, kontrolliert und überwacht die privaten Anbieter. Diese setzen die E-ID technisch um. Jeder spielt die Rolle, die er besonders gut kann. Die Situation ist vergleichbar mit der Telekommunikation. Die damalige PTT schrieb vor, welche Telefonmodelle wir benutzen durften. Mit der Liberalisierung entstand ein Wettbewerb und die Kunden können heute den Anbieter selbst wählen.

Die Swiss Sign Group, ein Konsortium aus staatsnahen Betrieben, Banken und Versicherungen, wird eine monopolartige Stellung haben. Ihre SwissID hat 1,75 Millionen Nutzer und neun Kantone als Kunden.
Das Gesetz ermöglicht viele Anbieter und stellt zudem sicher, dass niemand eine marktbeherrschende Stellung ausnutzen kann. Die eidgenössische Aufsichtskommission Eidcom wird das Anerkennungsverfahren durchführen. Auch die Swiss Sign Group wird sich bewerben und alle Pflichten erfüllen müssen. Anbietern die sich nicht an die Regeln halten, kann die Eidcom ihr die Anerkennung wieder entziehen. Zudem muss jeder Anbieter seine Bewerbung alle drei Jahre erneuern.

Wie viele andere Anbieter wird es geben?
Schon heute ist klar, dass es zu einem Wettbewerb kommt. Der Kanton Schaffhausen, die Cloud Trust AG und noch zwei, drei weitere Anbieter haben ihr Interesse bekundet.

Ringier-CEO Marc Walder und Alt-Bundesrätin Doris Leuthard werden als treibende Kräfte hinter der privaten E-ID vermutet. Die Swiss Sign Group entstand 2017 am ersten Digitaltag, den Walder mit seinem Verband Digitalswitzerland ausrief.
Der Treiber der E-ID ist die Digitalisierung. Sie findet unabhängig von einzelnen Personen statt. Und die Coronakrise hat gezeigt, wie nützlich und wichtig die Digitalisierung sein kann. Den Entscheid, auf eine zukunftstaugliche Aufgabenteilung zwischen Staat und Privaten zu setzen, haben Bundesrat und Parlament gefällt. Das Modell wird auch von Kantonen, Gemeinden und Städten unterstützt.

Daten sind das Gold der Zukunft. In Artikel 9 Absatz 3 des Gesetzes heisst es, Personenidentifizierungsdaten, Nutzungsdaten und übrige Daten seien getrennt zu halten. Was sind das für Daten? Und wo werden sie aufbewahrt?
Es ist wie zuhause in der Küche. Zucker und Salz bewahrt man nicht in derselben Büchse auf. Genauso ist es bei den Daten. Es gibt Personenidentifizierungsdaten. Das sind die Daten, mit denen jemand identifiziert wird: Name, Vorname etc. Diese Daten stammen wie heute aus den Registern des Bundes.

Und die Nutzungsdaten?
Loggt man sich irgendwo ein, entstehen Nutzungsdaten. Der E-ID-Anbieter sieht, wann und wo Sie sich mit der E-ID angemeldet haben. Er weiss aber nicht, ob Sie eine Brille gekauft oder Spaghetti bestellt haben, diese so genannten Inhaltsdaten gelangen gar nicht zu den E-ID-Anbietern. Und die Nutzungsdaten muss er nach sechs Monaten löschen.

Was ist mit «übrigen Daten» gemeint?
Das sind weitere Daten, die ich als Konsument freiwillig hinterlegen kann, wie Lieferadresse, Sprache, Emailadresse und Telefonnummer – falls der Anbieter das möglich macht.

Da kommen enorme Datenmengen zusammen. Gemäss «Republik» sollen die detaillierten Bewegungsprofile, Browsereinstellungen und digitalen Kaufverträge beim Unternehmen Swiss Sign offenbar auf Servern der Post gespeichert werden. Ist das nicht heikel, all diese Daten zentral zu speichern?
Daten fallen immer an, das wäre ja auch bei einer staatlichen Lösung der Fall. Das E-ID-Gesetz gibt uns aber just die Möglichkeit, den Umgang mit den Daten und auch deren Schutz staatlich klar zu regulieren. Denn wenn wir uns heute im Internet zum Beispiel mit Google oder Facebook anmelden, wissen wir nicht genau, wo und wie die Daten gespeichert werden und was damit passiert. Bei der E-ID müssen diese Daten hingegen wie gesagt separat gespeichert werden und sie dürfen nicht zur Erstellung von Profilen verwendet werden.

Artikel 15 sagt, der Identitätsprovider müsse die Daten, die bei einer Anwendung der E-ID entstünden, nach sechs Monaten vernichten. Um welche Daten geht es?
Um die Nutzungsdaten der Logins. Falls diese Daten beim Anbieter anfallen, darf er sie ausserdem auch nicht bearbeiten.

Die Identifizierungsdaten des Staates sind umfassend, bis hin zu einem Bild. Legt man sie mit den Nutzerdaten und den übrigen Daten zusammen, lassen sich mächtige Profile erstellen.
Theoretisch, aber gerade das verbietet das neue E-ID-Gesetz.

Nur: Ist es grundsätzlich möglich, solche Profile zu erstellen?
Missbräuche kann man nie gänzlich ausschliessen, diese Gefahr besteht schon heute. Entscheidend ist: Ein Login-Anbieter hat kein Interesse daran, dass es zu Missbräuchen kommt. Das wäre ein immenser Reputationsschaden. Dank dem E-ID-Gesetz hätten wir hier zudem zum ersten Mal einen rechtlichen Schutz.

Es bahnt sich ein enges Rennen an um die E-ID.
Es ist auf jeden Fall eine stark ideologisch geprägte Diskussion. Und meine Erfahrung zeigt: Ideologische Haltungen blockieren gute Lösungen. Wir haben viele und gute Kompromisse zugunsten des Konsumenten- und Datenschutzes gemacht für dieses Gesetz. Wichtig ist: Wir haben jetzt die Chance, diesen Datenverkehr in der Schweiz selbst zu regeln. Tun wir es nicht, geht die Entwicklung trotzdem weiter, aber ohne staatliche Kontrolle. Facebook, Apple und Google produzieren IDs. Anders als bei der E-ID wandern diese Daten aber ins Ausland ab.

Weitere Infos

Dossier

  • Elektronische Identität: das E-ID-Gesetz

    Der Bundesrat und das Parlament wollten mit der E-ID eine staatlich regulierte und sicherere, elektronische Identität schaffen. Ein wichtiges Ziel der E-ID war auch, den Datenschutz zu stärken und dem E-Governement einen Schub zu geben. Gegen das Gesetz wurde das Referendum ergriffen. In der Volksabstimmung vom 7. März 2021 wurde das «Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste» abgelehnt, die von Bundesrat und Parlament vorgeschlagene Lösung fand bei den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern keine Mehrheit.

  • Volksinitiative "Ja zum Verhüllungsverbot"

    Die Schweiz wird die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum verbieten. Am Sonntag, 7. März 2021, hat die Bevölkerung die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» angenommen. Die Stimmbevölkerung will, dass man einander mit offenem Gesicht begegnet.

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Letzte Änderung 30.01.2021

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