Betrachtet man die Entwicklung der Herkunftsanalysen der öffentlichen Verwaltungen verschiedener westeuropäischer Staaten, stellt man fest, dass die theoretischen Vorüberlegungen am Anfang in einem äusserst bescheidenen Rahmen getätigt wurden und dass sich z. B. das Bewusstsein für die Komplexität des linguistischen Teils der Herkunftsanalyse erst nach und nach einstellte1).
Dies hat Kritik hervorgerufen: zuerst einmal, weil Abklärungen im Asylbereich allgemein ein sensibles Thema darstellen und somit auch ethische Aspekte solcher Abklärungen ins Spiel kommen, aber auch weil das jeweilige Vorgehen und die dafür eingesetzten Experten nicht öffentlich bekannt gemacht wurden. Eine häufig wiederkehrende Kritik, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Medien, ist folglich die fehlende Transparenz des Verfahrens2). Eine weitere Kritik ist der Einsatz von «Sprachanalysten», die nicht akademisch ausgebildete Sprachwissenschafter sind, sondern lediglich Personen mit muttersprachlicher Kompetenz in den zu analysierenden Sprachen. Muttersprachlern fehlt grundsätzlich das für eine Beschreibung bestimmter Sprach- und Sprechphänomene notwendige theoretische Wissen. Überdies gehen ihnen die wichtigen Grundlagenkenntnisse der Dialektologie und Soziolinguistik ab3). Schliesslich fand häufig eine Gleichsetzung mit dem Resultat der Herkunftsanalyse und der effektiven Staatsangehörigkeit (Nationalität) einer Person statt; es soll daher auch hervorgehoben werden, dass eine Herkunftsanalyse in keinem Fall die Staatsangehörigkeit einer Person bestimmen kann, sondern lediglich das Sozialisationsmilieu und den Sozialisationsraum.
Auf diesen letzten Punkt wird auch in den Guidelines4) hingewiesen, die im Jahre 2004 von einer internationalen Gruppe von Linguisten erstellt wurden, um die Grundlagen für sprachwissenschaftliche Herkunftsanalysen zu definieren und Empfehlungen zur Erstellung und Verwendung solcher Analysen zu geben. Darin wird unter anderem auch erklärt, dass Sprachanalysen von qualifizierten Linguisten durchgeführt werden müssen, die das Recht haben sollen, anonym zu bleiben, solange sie ihre Qualifikationen beweisen können. Auch wird darauf hingewiesen, dass Sprachgrenzen bei weitem nicht immer politischen Grenzen entsprechen und verschiedene linguistische Phänomene, wie z.B. code-switching, style-shifting oder Akkommodationseffekte5) zu beachten sind.
Diese Guidelines decken sich mit den von LINGUA entwickelten Arbeitsmethoden. Die von LINGUA erstellten Expertisen bestehen zudem nicht nur aus einer sprachwissenschaftlichen Analyse der Sprechweise(n), sondern werden durch eine Bewertung des landeskundlich-kulturellen Wissens des Probanden ergänzt. Dies erlaubt gerade in Fällen von grenzübergreifenden Sprachlandschaften (eine Problematik, die in den Guidelines ebenfalls erwähnt wird), zuverlässigere Resultate zu erzielen. Die Überprüfung des landeskundlich-kulturellen Wissens einer Person ist vor allem auch dann von grosser Bedeutung, wenn ihre Sprache schlecht oder gar nicht erforscht ist, was gerade bei vielen afrikanischen Sprachen der Fall ist.
Das LINGUA Team, welches wie erwähnt aus Linguisten besteht, die sich deshalb der Möglichkeiten und Grenzen solcher Analysen bewusst sind, hält es zudem für wichtig die Experten zu unterstützen und jede Expertise sorgfältig korrekturzulesen.
Auch die Evaluationsmöglichkeiten, um die Qualität der Analysen systematisch und einheitlich zu prüfen, sind bis jetzt noch wenig erforscht: So können im Asyl- und Ausländerbereich zwar erfolgreiche Rückübernahmen bzw. Anerkennungen durch den Herkunftsstaat oder zu einem späteren Zeitpunkt auftauchende Identitätsdokumente eine gewisse Information über die Richtigkeit des Resultats geben. Diese Informationen werden aber nicht systematisch an LINGUA weitergeleitet und zudem stösst man wieder auf die eingangs erwähnte Problematik, dass der Sozialisationsraum nicht unbedingt der effektiven Staatsangehörigkeit entsprechen muss. Auch das Thema der Datenerhebung wurde bisher nur beschränkt diskutiert und erforscht6) – das Forschungsprojekt zu den LINGUA-Interviews hat hier neue Erkenntnisse gebracht. Zudem ist LINGUA bemüht, den Dialog zwischen Verwaltung und Wissenschaft zu fördern: So nimmt LINGUA jährlich aktiv an nationalen und internationalen Veranstaltungen zur Sprachwissenschaft teil7) und pflegt den Kontakt zu wissenschaftlichen Institutionen sowie zu ausländischen Partnerstellen mit dem Zweck, bisherige Erfahrungen auszutauschen, verschiedene Vorgehensweisen zu diskutieren und Kenntnisse und Impulse aus dem akademischen Bereich zu erhalten.
Aus diesem Grunde hat LINGUA im Sommer 2008 selbst einen Workshop zum Thema «Linguistische Analysen im Asylverfahren» organisiert. Teilgenommen haben Vertreter von verschiedenen europäischen Fachstellen, die solche Herkunftsanalysen erstellen, sowie Akademiker aus den verschiedensten Ländern. Ziel des Workshops war es, auf dem Gebiet der Herkunftsanalysen mehr Transparenz zu schaffen, die unterschiedlichen Arbeitsmethoden der verschiedenen Fachstellen aufzuzeigen, Erfahrungen auszutauschen und mit Hilfe der anwesenden Wissenschaftler die Möglichkeiten und Grenzen solcher Analysen zu thematisieren8).
1) Für eine Übersicht, vgl. REATH Anne: «Language analysis in the context of asylum process: Procedures, validity, and consequences». Language Assessment Quarterly: An international Journal, Vol 1, N°4, 2004, pp. 209-233.
2) Vgl. EADES Diana, ARENDS Jacques: «Using language analysis in the determination of national origin of asylum seekers: an introduction». The International Journal of Speech, Language and the Law. Formerly Forensic Linguistics. Birmingham, 2004, vol. 11 (2), pp. 179-199.
Das Verfahren wird von jedem Staat verschieden gehandhabt. In der Schweiz werden sowohl die Experten anonym gehalten als auch die Gutachten nicht öffentlich bekannt gemacht. Ersteres aus Sicherheitsgründen, letzteres vor allem aus Gründen des Lerneffekts, da die Gutachten von LINGUA sehr ausführlich verfasst sind.
3) CORCORAN Chris: «A critical examination of the use of language analysis interviews in asylum proceedings: a case study of a West African seeking asylum in the Netherlands». The International Journal of Speech, Language and the Law. Formerly Forensic Linguistics, Birmingham, 2004, vol. 11 (2), p. 200-221; MARYNS Katrijn, vgl. Fussnote 8; SINGLER John Victor: «The ‹linguistic› asylum interview and the linguist's evaluation of it, with special reference to applicants for Liberian political asylum in Switzerland». The International Journal of Speech, Language and the Law. Formerly Forensic Linguistics, Birmingham, 2004, vol. 11 (2), p. 222-240.
4) «Guidelines for the use of language analysis in relation to questions of national origin in refugee cases», Language and National Origin Group, June 2004, in The International Journal of Speech, Language and the Law. Formerly Forensic Linguistics, Birmingham, 2004, vol. 11 (2), p. 261-266. – auch auf:
http://www.als.asn.au/lganalysis.pdf
5) Code-switching: wechseln der Sprache für ein Wort, einen Satzteil, Satz oder längeren Abschnitt; style-shifting: wechseln oder anpassen eines bestimmten Registers der jeweiligen Sprache (z.B. von Strassensprache zu gehobener Sprache). Akkommodationseffekt: Tendenz eines Sprechers sich seinem Gegenüber sprachlich anzupassen.
6) Siehe aber Beiträge am Workshop «Language Analysis in Refugee Status Determination», 16. Sociolinguistics Symposium, Limerick/Irland, 06.-08.07.2006
http://www.ul.ie/ss16/WS06.html
7) 7th Biennial Conference on Forensic Linguistics/Language and the Law/ IAFL (International Association for Forensic Linguists) in Cardiff/Wales, 01.-04.07.2005
http://www.cardiff.ac.uk/encap/clcr/iaflconference/;
Workshop Language Analysis in Refugee Status Determination am 16. Sociolinguistics Symposium, Limerick/Irland, 06.-08.07.2006
http://www.ul.ie/ss16/WS06.html;
Second European IAFL Conference on Forensic Linguistics/Language and the Law) in Barcelona/Spanien, 14.-16.09.2006
http://www.iula.upf.edu/agenda/iafl_bcn_06/;
4. Tage der Schweizer Linguistik, Basel/Schweiz, 20.-21.11.2006
http://www.vals-asla.ch
Workshop on Language Analysis in the determination of national origin of refugees am Joint Summer Meeting der Society of Pidgin and Creole Linguistics (SPCL) und der Associação de Crioulos de Base lexical portuguesa e Espanhola (ACBLPE) in Amsterdam/Holland vom 21.06.2007
http://www.taalstudio.nl/taalanalyse/52.html;
9th Biennial Conference on Forensic Linguistics/Language and the Law/ IAFL (International Association for Forensic Linguistics) in Amsterdam/Holland, 06.-09.07.2009
http://iafl09.let.vu.nl/;
6th Worlds Congress of African Linguistics (WOCAL) in Köln/Deutschland, 17.-21.08.2009
http://www.uni-koeln.de/phil-fak/afrikanistik/wocal/).0
8) Workshop on linguistic analyses within the asylum procedure in Lausanne/Schweiz, 23.-24.07.2008
https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/service/sprachanalysen/workshop_2008.html
Letzte Änderung 06.07.2021