Spezifitäten des ländlichen Raumes

Die Entwicklung des ländlichen Raumes darf nicht alleine einer Wachstumslogik überlassen werden. Es braucht Alternativen zur Kapitalisierung des Bodens und zur ungebremsten Bautätigkeit. Das birgt Herausforderungen, schafft aber auch neue Möglichkeiten für attraktive Lebensräume.

Stadt und Land verlieren zunehmend ihre Unterscheidungsmerkmale. «Stadt» wird immer mehr ruralisiert und «Land» durch Zersiedelung verstädtert. Stadt und Land können mittlerweile weder visuell noch in Bezug auf die Identifikation eindeutig zugeordnet, sondern sie müssen als ein Kontinuum von Urbanisierungsgraden betrachtet werden. Unterschiede zeigen sich einzig im Grad der Vernetzung, der Interaktion, der Schichtigkeit sowie in ökonomischer, sozialer und baulicher Hinsicht. Die trotz des neuen Raumplanungsgesetzes anhaltende Zersiedelung sorgt für eine permanente Umgestaltung der Landschaft und geht mit einem Identitätsverlust einher. Dieser Identitätsverlust stellt die Raumentwicklung vor beträchtliche Herausforderungen, ist aber gleichzeitig ihr Potential.

Die Verstädterung manifestiert sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Gesellschaft, in unseren Köpfen – und sie ist eingebettet in die Megatrends der Urbanisierung und Individualisierung. Urbanisierung ist eine unumkehrbare Entwicklung, die mit dem Bevölkerungswachstum und der Globalisierung zusammenhängt. Die Zukunft gehört der Stadt. Nicht Länder prägen das 21. Jahrhundert, sondern Städte. Der globale Trend der Urbanisierung führt weltweit zu einem anhaltenden Stadtwachstum und einem immer umfassenderen Bedarf an funktionalen Räumen. Zweidrittel aller Menschen lebt heute in Städten. Und es werden in Zukunft noch mehr sein.

Von «Stadt» und «Land»

Städte und Siedlungen erfahren zudem eine Renaissance als Lebens- und Kulturform. Urbane, durch Dichte und Heterogenität geprägte Lebensstile nehmen zu – auf dem Land und in der Stadt. Der städtische Sozialcharakter wird durch die Möglichkeit zur Anonymität und die Konfrontation mit dem Unbekannten geformt. Die fehlende räumliche Distanz wird durch die Entwicklung einer inneren Distanz kompensiert.

In kleinen Städten und Dörfern überschneiden sich die Kontaktkreise, man begegnet in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder denselben Menschen. In der Grossstadt hingegen differenzieren sich Kontaktkreise und die sozialen Rollen aus, was die Individualisierung zusätzlich befördert. So begünstigen urbane Lebensstile die Emanzipation von sozialen Verpflichtungen und ermöglichen die Loslösung aus traditioneller sozialer Kontrolle. Als Kehrseite dieses Prozesses steigt das Risiko der sozialen Isolation und der existenziellen Gefährdung, gerade auf dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft und der Zunahme von Einpersonenhaushalten.

Die fortschreitende Individualisierung steht nicht nur mit der Stadtwerdung in einem Zusammenhang, sondern paradoxerweise auch mit dem Verlust von Identität. Auf der einen Seite sorgt Zersiedelung für den Verlust der «äusseren» oder «räumlichen» Identität. Das zeigt sich in der Schweiz besonders deutlich im Verschwinden von intakten Orts- und Landschaftsbildern und – damit verbunden – dem Verlust von Identifikationsorten Auf der anderen Seite führen die Globalisierung und die wachsende Zahl von Menschen in den Städten zu einer Verschmelzung von Kulturen und in der Folge zu einem «inneren» oder «kulturellen» Verlust von Identität. Je mehr das Bedürfnis nach völlig unterschiedlichen Werten und Lebensstilen wächst, desto drängender stellen sich aber Fragen nach der Identität und nach Individualität. Die Städte und Dörfer der Zukunft werden entsprechend vielfältiger, vernetzter und in jeder Hinsicht lebenswerter sein. Vor allem aber verändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihrem Lebensraum. Dabei sind Individualisierung und Identität zentrale Faktoren. Das Potential liegt demnach darin, die damit verbundenen Herausforderungen in der Siedlungsentwicklung umzusetzen.

Städtischer Raum und Peripherie

Im Zuge der aktuellen Stadtentwicklung wird der zentrumsnahe Raum immer mehr zu einem Repräsentationsraum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten. Das führt zu einem eher bewahrenden Verhalten, die komfortable Situation soll erhalten bleiben. Innovation hat da kaum Platz. Weil zudem die Mieten teuer sind, fliesst die Kreativität in die Peripherie der Kernstädte und in die Agglomerationen ab, wo neue Dynamiken und kreative Hubs entstehen. So verschiebt sich die Dynamik zwischen Stadt und Land: Während die Agglomerationen immer urbaner werden, erhalten die Städte einen zunehmend ländlichen Charakter mit synthetischen Stadtzentren, wenig kreativem Potential und Innovationsarmut. Der Unterschied zwischen urbanen und ländlichen Räumen zeigt sich in immer deutlicheren regionalen Differenzen – der langjährigen Regionalentwicklungspolitik des Bundes zum Trotz.

Herausforderungen regionaler struktureller Ungleichheiten

Statistiken belegen einen Reurbanisierungsprozess und ein Bevölkerungswachstum, das sich auf die Kernstädte und Agglomerationen im Metropolitanraum konzentriert – also auf den Mittellandbogen zwischen Zürich und Genf. Während hier eine hohe Nachfrage nach Wohnraum besteht, wächst ausserhalb des Metropolitanraumes der Wohnungsleerstand rasch an. Das erzeugt regionale strukturelle Ungleichheiten auf drei Ebenen: hinsichtlich der Lebensbedingungen, der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der zunehmenden sozialen Unterschiede innerhalb der Region.

Die Raumplanung muss also die Problematik sich verschärfender Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher Ursachen und mit weitreichenden Folgen bearbeiten: beispielsweise Gentrifizierung und Segregation in städtischen Räumen oder Entleerungen, Brain-Drain, Überalterung und Verödung von ganzen Dorfkernen in ländlichen Regionen. Hier liegen die Herausforderungen für die ländlichen Räume.

Dynamik des Leerstandes

Strukturelle Ungleichheiten betreffen nicht nur das Gefälle zwischen Stadt und Land, sondern entstehen auch innerhalb von Siedlungsräumen, zwischen Quartieren oder unterschiedlichen Dorfteilen. Eine Problematik, die dabei vernachlässigt wird, ist die Leerstandentwicklung. Die aktuelle Raumentwicklung, angetrieben durch Investitionen in Immobilien, Wachstumsstrategien und Urbanisierungstrends ist nämlich dafür mitverantwortlich, dass immer mehr Wohnungen leer bleiben.

Als Ursache für die Entstehung von Leerstand galt bisher die Schrumpfung. Schrumpfung, verursacht durch tiefgreifenden strukturellen Wandel in Wirtschaft, Kultur oder Politik, was zu arbeitsmarktbedingter Abwanderung, Überalterung, Brain-Drain – und schliesslich zum physischen Zerfall und der sozialen Erosion von Städten und Gemeinden führt. Bestimmte Regionen in Ostdeutschland, das Ruhrgebiet, das Saarland, aber auch Detroit USA stehen beispielhaft für diese Entwicklung.

In manchen Schweizer Gemeinden zeigt sich nun ein neues Phänomen: Auslöser des Leerstandes ist nicht mehr die herkömmliche Schrumpfungsdynamik, sondern eine Überlagerung mehrerer Faktoren. Die wichtigsten Treiber sind eine zu hohe Baulandausweisung am falschen Ort, der aktuelle Reurbanisierungsprozess, eine Kapitalisierung des Bodens durch Spekulation oder durch die Flucht in Immobilien wegen der exponentiellen Ausweitung der Geldmenge bei fehlenden Investitionsalternativen sowie die aktuelle Zinspolitik. Gleichzeitig bremst die periphere Lage der ländlichen Gemeinden das Bevölkerungswachstum.

Kulturelle Verankerung der Fehlentwicklung

Seit der Entstehung der modernen Grossstadt gilt Wachstum als universales Muster der Stadtentwicklung. Und dieses Wachstumsparadigma prägt bis heute unser Konzept der Raumentwicklung. Die Tatsache, dass in der Schweiz die Städte und Dörfer ausserhalb des Mittellandbogens zwischen Zürich und Genf schrumpfen, der Leerstand also zunimmt, wird bei raumplanerischen Massnahmen meist ausgeblendet. Die Bautätigkeit dient heute zum Parkieren des Kapitals – und nicht dem Wohlbefinden der Menschen im Lebensraum. Solche anlagepolitischen Strategien übersehen aber die Konsequenzen eines hohen Wohnungsleerbestandes und auch die daraus resultierenden volkswirtschaftlichen und kulturellen Folgen. Das von der Nachfrage entkoppelte Wohnungsangebot drückt auf die Immobilienpreise, die sinkenden Mieten ziehen Personen mit geringen ökonomischen Ressourcen an. Langfristig bedeutet dies: weniger Steuerkraft und höhere Ausgaben. Der einsetzende Strukturwandel mit Entleerung und Verödung der Stadt- oder Dorfkerne führt nicht nur zu finanzieller und sozialer Erosion, sondern auch zum Verlust der ursprünglichen Identität. Er hat zur Folge, dass noch mehr Menschen abwandern. Diesen Teufelskreis der Schrumpfung will man mit der Ausweitung von Bauland und noch mehr Bautätigkeit durchbrechen, verschärft damit aber das Problem zusätzlich.

Neue Ansätze der Raumentwicklung

Um den negativen Folgen der strukturellen Ungleichheiten entgegenzuwirken, muss man in erster Linie erkennen, welches Potential eine schrumpfende Region entfalten und welcher Mehrwert daraus entstehen kann. Eine ganzheitliche Sichtweise könnte diese Entwicklungschancen betonen und Grundlagen für ein regional-räumliches Leitbild liefern. Dabei müssten zwingend die Ergebnisse früherer Prozesse und die Perspektive der Bevölkerung zu einer Gesamtsicht zusammengeführt werden.

Diese Gesamtsicht fehlt aber in der schweizerischen Raumplanung. Partikularinteressen, Föderalismus und falsche ökonomische Anreize verhindern, dass jene Probleme, die aus Wirtschaftswachstum, erweiterten Aktivitätsräumen und zunehmender Mobilität entstanden sind, zielgerichtet angegangen werden.

Methodisch ganzheitliche Lösungsansätze könnten helfen, diese blinden Flecken zu erhellen. Solche, integrativen Ansätze basieren auf drei Grundpfeilern. Erstens auf einer regionalen Innovationspolitik, die sich an den Herausforderungen orientiert. Zweitens auf residentiellen Ökonomien, die das lokale Gewerbe und Unternehmertum stärken. Und drittens auf einer akteurszentrierten Regionalentwicklung unter Einbezug verschiedener Zielgruppen.

Regionale Innovationspolitik: Fördert die regionalen Innovationssysteme und sorgt für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung unter Berücksichtigung der regionalen Pfade. Dabei muss ein integrativer Umgang mit dem Wohnungsleerbestand und den Schrumpfungsprozessen gefunden werden. Insbesondere gilt es zu verhindern, dass die finanzielle Basis audgrund sinkender Gewerbe- und Einkommenssteuern erodiert, während die Kosten des ökonomischen, sozialen und demographischen Wandels explodieren. Die Schrumpfungsprozesse sind als langfristiges und politisch zu steuerndes Problem zu begreifen, das nicht allein den Marktkräften überlassen werden darf.

Residentielle Ökonomien: Sind ein Magnet für hohe Einkommen und ermöglichen den Aufbau lokaler Dienstleistungen rund um das Wohnen und die Freizeit. New Work, neue Lebensstile und alternative Lebensentwürfe bieten hier viel Potential. Lokale Produkte erfreuen sich einer grossen Nachfrage, was geschlossene Wirtschaftskreisläufe ermöglicht. Zudem schaffen ländliche Räume mit einer intakten Baukultur kulturelle Identitätsangebote in einem hybriden Rückzugsort zwischen Freizeit und Arbeit.

Akteurzentrierte Regionalentwicklung: Berücksichtigt die Perspektiven und Bedürfnisse unterschiedlicher Akteure. Weil jede Region einzigartig ist, kommt den lokalen Akteuren bei der Regionalentwicklung eine besondere Bedeutung zu. Fragestellungen zu Lebensqualität, zu den Bedürfnissen und Wünschen ermöglichen die Partizipation von Betroffenen und fördern die Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Dieser Bottom-up-Ansatz ist eine Bereicherung bei der Erarbeitung von Entwicklungsstrategien, bei deren Koordination und Umsetzung.

Umsetzung in der Praxis

Gemeinde- und Stadtentwicklung befinden sich in einem Wandel, der nur mit agilen Planungsinstrumenten zu bewältigen ist und eine verstärkte Kooperation zwischen politischen Institutionen und gesellschaftlichen Akteuren erfordert. Technokratisch orientierte Planungsprozesse müssen durch dialogisch konzipierte Ansätze abgelöst werden. Lebensräume sind als lernende Systeme mit zahlreichen Rückkoppelungsschleifen zu verstehen. Dabei kommt der Partizipation der Bevölkerung eine übergeordnete Bedeutung zu.

Regionales Lernen mit Netzwerk-Governance: Die Kooperation in Netzwerken entspricht eher den Anforderungen an die lokale Entwicklungspolitik als die beschränkten Regulierungskompetenzen formaler Organisationen. Gesellschaftliche Aufgaben lassen sich im Verbund von Wissenschaft, Wirtschaft und NGO’s besser angehen, zumal die Synergien zwischen den unterschiedlichen Kompetenzen und Wissensformen entstehen.

Integrierte Stadt- oder Regionalentwicklung: Diese arbeitet innerhalb der Verwaltungen sektor- und ressortübergreifend und bindet ein breites Akteursspektrum aus Politik, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft in die Entwicklung und Umsetzung von Strategien ein. Dieser Ansatz orientiert sich konsequent an den realen Problemen vor Ort. Zudem benötigen Städte und Kommunen gute Rahmenbedingungen und ausreichend finanzielle Ressourcen, um Entwicklungsprozesse in vernetzten Organisations- und Entscheidungsstrukturen zu initiieren, zu moderieren und umzusetzen.

Planerische Bescheidenheit und Partizipation: Herkömmlicherweise formuliert Planung in einem ersten Schritt ein Endergebnis, um dann zu überlegen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Bei den aktuellen Herausforderungen der Siedlungsentwicklung stellt sich aber viel eher die Frage, wie eine Dynamik angestossen werden kann, ohne dass ein idealer Endzustand definiert wird. Bei diesem Vorgehen beschränkt sich die Planung auf eine befristete Intervention – die Entwicklung in ihrer Gesamtheit bleibt weitgehend offen. So erhält Planung den Charakter des Ermöglichens. Es geht viel eher darum, den Beteiligten neue Möglichkeiten der Bedürfniserfüllung zu eröffnen, als einen idealen Zustand zu skizzieren. Damit werden die Menschen, die den Raum nutzen, zu Produzierenden des Raumes. Gleichzeitig gilt es, die von der Entwicklung betroffenen Menschen zu Beteiligten zu machen. Denn Partizipation verstärkt die Identität und fördert die Siedlungsqualität, indem Vorschläge und Ideen in die Entwicklungsprozesse einfliessen und die Planungen vor dem kritischen Blick potentieller Nutzerinnen und Nutzer bestehen müssen.

Innovativ in die Zukunft

Ein zukunftsfähiger Städtebau und eine integrierte Stadtplanung stellen sich den aktuellen Herausforderungen. Die Stadtentwicklung muss lernen, mit den Folgen des demographischen Wandels, also sinkenden Einwohnerzahlen umzugehen. Ein möglicher Ansatz: Städtische Flächen neuen Funktionen zuführen und die Infrastruktur dem veränderten Bedarf anpassen (Stichwort residentielle Ökonomie).

Gerade für Kommunen mit einem zunehmenden Leerwohnungsbestand und ungebrochen hoher Bautätigkeit, braucht es einen Perspektivenwechsel von Wachstum zu Schrumpfung und die Verschiebung hin zu einer herausforderungsorientierten regionalen Innovationspolitik. Leerstand bietet immer auch Chancen für Zwischennutzungen und akteurszentrierte Leuchtturmprojekte.

Die Revitalisierung von Ortskernen und deren Infrastruktur schafft Voraussetzungen für Wirtschaftskreisläufe mit lokalen Produkten und Dienstleistungen. Die Förderung einer vielseitigen, beschäftigungsintensiven Wirtschaft mit Schwerpunkt KMU sichert zudem qualifizierte Arbeitsplätze – und das sorgt für eine ökonomische Stabilisierung mit gesunden öffentlichen Finanzen.

Wenn sich die Siedlungsentwicklung zudem den Bedürfnissen der Bevölkerung öffnet, die Öffentlichkeit lustvoll beteiligt und Kommunikationsstrategien umsichtig umsetzt, dann steigt von selbst das Identitätsbewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner für ihren Lebensraum. Und so wird die zentrale Herausforderung der Raumentwicklung zu ihrer grössten Chance.  

Letzte Änderung 09.03.2022

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