50 Jahre Diskurse über das Fremde
Vor 50 Jahren kam die erste Überfremdungsinitiative – die Schwarzenbach-Initiative – zur Abstimmung. Es folgten elf weitere Initiativen, welche die Zuwanderung zu begrenzen suchten. Mit einer Ausnahme, der Masseneinwanderungsinitiative, wurden sie alle abgelehnt. Am 27. September 2020 werden die Schweizerinnen und Schweizer ein weiteres Mal an die Urnen gerufen: Sie werden sich zur «Initiative für eine massvolle Zuwanderung», kurz Begrenzungsinitiative, äussern können.
Überfremdungsinitiativen appellieren an individuelle und kollektive Angstgefühle. Die damit verbundenen Bedrohungsszenarien zielen an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität vorbei. Historisch und demografisch ist die Schweiz eine Migrationsgesellschaft. Um sich entwickeln zu können, ist das Land auf Migration und grenzüberschreitende Mobilität angewiesen. Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen wurde für die grenzüberschreitende Mobilität ein verbindlicher Rahmen geschaffen. Flankierende Massnahmen dienen der Feinjustierung dieses Regelwerks.
Nach 50 Jahren Diskursen über das Fremde ist es an der Zeit, dass die Schweiz ein neues Selbstverständnis entwickelt. Ein konstruktiver Umgang mit Vielfalt ist eine der grossen Stärken der Schweiz. In der Vergangenheit ist es immer wieder gelungen, unterschiedliche Gruppen in das «Projekt Schweiz» einzubinden. Um auch auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft Lösungen zu finden, braucht es die Kräfte aller Menschen in diesem Land.
Im Visier der Begrenzungsinitiative ist das Freizügigkeitsabkommen mit der EU. Um die Zuwanderung zu begrenzen, soll die Personenfreizügigkeit gekündigt werden.
Die Initiative will, dass die Schweiz keine neuen völkerrechtlichen Verträge abschliesst, welche «ausländischen Staatsangehörigen» die Personenfreizügigkeit ermöglichen.
Auf dem Verhandlungsweg soll das Freizügigkeitsabkommen «innerhalb von zwölf Monaten ausser Kraft» gesetzt werden. «Gelingt dies nicht, so muss der Bundesrat das Freizügigkeitsabkommen innert 30 Tagen» kündigen.
Deshalb wird die Initiative auch «Kündigungsinitiative» genannt.
Die Personenfreizügigkeit gibt den Menschen im EU-/EFTA-Raum die Freiheit, ihren Wohn- und Arbeitsort frei zu wählen. Dieses Recht steht ihnen zu, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.
Die EU- und EFTA-Staaten (Norwegen, Island, Liechtenstein, Schweiz) haben gemeinsam einen Raum geschaffen, in welchem die grenzüberschreitende Mobilität erleichtert wird: Angehörige der Vertragsstaaten können ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen. Die grenzüberschreitende Mobilität ist jedoch nicht völlig liberalisiert, sie ist vielmehr an Bedingungen geknüpft.
Manche dieser Bedingungen sind aussenpolitisch festgelegt, andere folgen innenpolitischen Regeln.
- In multilateralen Verhandlungen gestalteten die Vertragsparteien die Personenfreizügigkeit gemeinsam. Sie stellten Regeln auf, welche für alle Angehörigen der Vertragsparteien gelten. Seinen Wohn- und Arbeitsort frei wählen darf, wer über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügt oder selbstständig erwerbend ist. Nichterwerbstätige müssen hinreichende finanzielle Mittel nachweisen. Wer seinen Wohn- und Arbeitsort in einen anderen Vertragsstaat verlegt, muss zudem krankenversichert sein.
- Um die Stärken der Personenfreizügigkeit zum Tragen kommen zu lassen und gleichzeitig mögliche Schwächen zu kompensieren, haben die Schweizer Regierung und die Sozialpartner flankierende Massnahmen eingeführt und laufend weiterentwickelt. Diese schützen die Arbeitsbedingungen in der Schweiz, garantieren die Einhaltung minimaler Arbeits- und Lohnbedingungen und bekämpfen Missbräuche. Weitere Massnahmen fördern das inländische Arbeitskräftepotenzial.
Die Begrenzungsinitiative will, dass die Schweiz das aussenpolitische Regelwerk der Personenfreizügigkeit aufkündigt. Bei einer Kündigung stehen auch die flankierenden Massnahmen, welche die Lohn- und Arbeitsbedingungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt schützen und das inländische Arbeitskräftepotenzial fördern, zur Diskussion.
Die Personenfreizügigkeit ist ein Mosaikstein der Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. Die Bilateralen I erleichtern den Menschen nicht nur die grenzüberschreitende Mobilität, sie vereinfachen der Wirtschaft den Zugang zu Waren- und Dienstleistungsmärkten.
Im Paket der Bilateralen I sind neben der Personenfreizügigkeit weitere Abkommen enthalten: die Abkommen über die technischen Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, die Landwirtschaft, die Forschung, den Luft- und den Landverkehr. Die Bilateralen I vermitteln den Menschen im EU-/EFTA-Raum einerseits das Recht, den Wohn- und Arbeitsort frei zu wählen, andererseits vereinfachen sie der Wirtschaft den grenzüberschreitenden Zugang zu Waren- und Dienstleistungsmärkten.
Die Kündigung der Bilateralen I hätte einen vertragslosen Zustand zur Folge, dass die Rechte und Möglichkeiten der Bevölkerung beschneiden würde:
- Auf der einen Seite könnten Angehörige der Vertragsstaaten eine Arbeitsstelle in der Schweiz nur noch annehmen, wenn dafür eine Bewilligung der Schweizer Behörden vorliegt. Auf der anderen Seite hätten Schweizer Staatsangehörige nur noch erschwert Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt.
Ein vertragsloser Zustand würde der Wirtschaft den Zugang zum europäischen Binnenmarkt erschweren:
- Schweizerische Industriebetriebe sind auf europäische Zuliefererfirmen und Absatzmärkte angewiesen. Technische Handelshemmnisse würden die Zirkulation von Waren und den Handel ins Stocken bringen.
- Da die Verhandlung neuer Freihandelsverträge Zeit in Anspruch nimmt, wäre die Schweiz mit wirtschaftlichen Unsicherheiten konfrontiert. Das Image der verlässlichen Partnerin würde in Mitleidenschaft gezogen.
- Schweizer Unternehmen könnten dringend benötigte Fachkräfte nicht mehr ohne weiteres in der EU rekrutieren. Statt eines einfachen Meldeverfahrens wäre fortan ein aufwändiges behördliches Bewilligungsverfahren die Voraussetzung für die Stellenbesetzung.
So positioniert sich die EKM
Historisch und demografisch ist die Schweiz eine Migrationsgesellschaft. Für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung ist das Land – wie andere europäische Staaten auch – auf grenzüberschreitende Mobilität angewiesen.
Mit der Globalisierung hat nicht nur die grenzüberschreitende Zirkulation von Waren, Dienstleistungen und Informationen zugenommen, auch die Bevölkerung ist mobiler geworden. Grenzüberschreitende Mobilität ist häufig nicht das Problem, sondern vielfach die Lösung: Ab dem Jahr 2035 kommt voraussichtlich jede zweite Erwerbsperson ins Pensionsalter. Pflegeheime und Privathaushalte werden auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sein. Die EU ist – mit rund 50 Prozent der Warenexporte und mehr als 60 Prozent der Importe – der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Um sich den demografischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu stellen, sind die Staaten in Europa auf Zuwanderung angewiesen. Dank der Personenfreizügigkeit können in Europa ansässige Betriebe ihr Personal über nationale Grenzen hinweg rekrutieren und auch die Menschen können ihren Wohn- und Arbeitsort ausserhalb nationaler Grenzen suchen.
Grenzüberschreitende Mobilität lässt sich steuern. Aussenpolitisch durch das verbindliche Regelwerk der Personenfreizügigkeit, innenpolitisch durch flankierende Massnahmen.
Bei der Zulassung ausländischer Arbeitskräfte praktiziert die Schweiz ein duales System. Erwerbstätige aus sogenannten Drittstaaten unterstehen einem Kontingentssystem. Die Behörden lassen eine beschränkte Zahl von Führungskräften, Spezialistinnen und Spezialisten und qualifizierten Arbeitskräften zu. In einem umfassenden Verfahren prüfen die Behörden der Kantone und des Bundes, welche Personen zum schweizerischen Arbeitsmarkt zugelassen werden.
Hingegen fallen Erwerbstätige aus den EU-/EFTA-Staaten unter das Personenfreizügigkeitsabkommen. Hier regelt der Arbeitsmarkt, wer in der Schweiz arbeiten darf. Für neue Arbeitskräfte aus dem Ausland besteht gegenüber den Behörden lediglich eine Meldepflicht.
Flankierende Massnahmen schützen inländische Arbeitskräfte vor Missbräuchen und fördern ihre Chancen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt, sie dienen der Feinjustierung des Regelwerks der Personenfreizügigkeit. Lücken in diesem Regelwerk können durch die Weiterentwicklung der flankierenden Massnahmen geschlossen werden.
Der konstruktive Umgang mit Vielfalt und Vielstimmigkeit stellt eine der grossen Stärken des Landes dar. Immer wieder ist es gelungen, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in das «Projekt Schweiz» einzubinden
Die Schweiz besteht aus Menschen, die irgendwann in der Geschichte mobil geworden sind. Diese Mobilität hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten intensiviert, ist aber historisch immer von Bedeutung gewesen. Migration hat die Geschicke der Schweiz seit jeher geprägt und sie hat Spuren hinterlassen. Bei rund der Hälfte der Menschen, die heute in der Schweiz lebt und arbeitet, ist mindestens ein Grosselternteil eingewandert. Und nahezu jede zweite Ehe, die heute in der Schweiz geschlossen wird, ist binational. Weltweit verfügt jede vierte Schweizerin und jeder vierte Schweizer über mindestens einen weiteren Pass – und gehört somit einem weiteren Staatswesen an.
Das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Herkunftsregionen, mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten, Lebensweisen, Sprachen und Vorstellungen ist eine Herausforderung. Die Schweiz hat es jedoch immer wieder verstanden, damit auf sachliche, konstruktive und lösungsorientierte Weise umzugehen. Immer ist es gelungen, verschiedene Sprachgruppen, Gruppen mit vielfältigen religiösen Hintergründen oder Gruppen, denen die Schweiz Schutz gewährte, in die Gesellschaft einzubinden. Zögerlich, aber mit immer grösserer Überzeugung bauten Städte, Kantone und der Bund Strukturen auf, welche Integrationsprozesse unterstützen. Überall im Land engagieren sich Menschen für ein friedliches Miteinander. Vereine tragen zum Zusammenleben bei. Unternehmen stellen sicher, dass junge Menschen berufliche und wirtschaftliche Perspektiven entwickeln können.
In einer Gesellschaft, in der ein Grossteil der Bevölkerung über Migrationserfahrung verfügt, macht das Reden über «Wir» und die «Anderen» wenig Sinn. Um Antworten auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft zu finden, ist die ganze Gesellschaft gefordert.
In regelmässigen Abständen gelangen in der Schweiz Initiativen zur Abstimmung, die darauf abzielen, die Zuwanderung zu begrenzen. Jedes Mal werden heftige und emotionale Debatten geführt. Das «Wir» wird verklärt und überhöht. Es wird vom «Anderen», welches mal in der Gestalt der «Gastarbeiter», mal in der Gestalt von «Asylsuchenden», mal in der Gestalt von «Ausländerinnen und Ausländern» erscheint, unterschieden. Die Befürworter dieser Initiativen argumentieren, dass die «Anderen» eine Gefahr für «unsere» kulturelle Eigenart darstellen, «unseren» Werkplatz bedrohen, «unsere» Infrastrukturen belasten oder «unsere» intakte Naturlandschaft zerstören. Wie andere Überfremdungsinitiativen stilisiert auch die Begrenzungsinitiative die Zuwanderung zum zentralen politischen Problem der Schweiz und macht die «Anderen» dafür verantwortlich. Zugleich stellt sie das Verhältnis der Schweiz zu Europa in Frage.
Ob all der lauten und kontrovers geführten Debatten haben viele nicht bemerkt, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Die einstigen Migrantinnen und Migranten sind heimisch geworden. In einem Land, in dem das Zusammenleben grundsätzlich gut funktioniert und das eine der stabilsten Volkswirtschaften der Welt aufweist, lenken fremdenfeindliche Diskurse von den zentralen Herausforderungen ab, die sich dem Land in Zukunft stellen: Die Herausforderungen der Digitalisierung und der neuen Technologien, die Herausforderungen, welche mit den demografischen Entwicklungen einhergehen, und die Herausforderungen des Klimawandels. Diese Herausforderungen lassen sich nicht meistern in einer Auseinandersetzung zwischen «uns» und den «Anderen». Um die Zukunft der Schweiz zu gestalten, es braucht alle Kräfte in diesem Land.
Letzte Änderung 24.06.2024