Seit der Schwarzenbach-Initiative im Juni 1970 wird in der Schweiz in regelmässigen Abständen über Initiativen gestritten, welche in hochemotionalen Debatten die Zuwanderung zu einem zentralen politischen Problem erklären. In der öffentlichen Debatte standen und stehen sich zwei gegensätzliche Positionen gegenüber, wenn es um die Frage der «Zuwanderung» geht. Während die einen betonen, die Schweizer Wirtschaft benötige nach wie vor ausländische Fachkräfte und sei deshalb auf die Zuwanderung sowohl aus dem EU- und EFTA-Raum wie auch aus Drittstaaten angewiesen, läuten andere die Alarmglocke und sind der Ansicht, dass die Grenze des Zumutbaren erreicht sei. Überfüllte Züge, verstopfte Strassen, steigende Immobilienpreise, gefährdete Umwelt oder Bedrohung der schweizerische Eigenart seien auf das Konto einer unkontrollierten Einwanderung zurückzuführen.
Der Schwarzenbachinitiative folgten elf weitere, welche die Zuwanderung zu begrenzen suchten. Mit einer Ausnahme, der Masseneinwanderungsinitiative, wurden sie alle abgelehnt.
In einer Studie zeichnet die Eidgenössischen Migrationskommission EKM die Geschichte von Abwehr, Fremdenfeindlichkeit und Mythos des souveränen Nationalstaats nach ̶ und wie sich die Politik seit 50 Jahren von der Rhetorik über das Fremde treiben lässt. Sie zeigt jedoch auch auf, dass die Gesellschaft immer wieder Wege gefunden hat, den Drohkulissen und Angstszenarien konstruktive Gegenentwürfe des Miteinanders entgegenzustellen.
Während die Mobilität im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens Anfang der 2000er Jahren mehrheitlich als problemlos gesehen wurde, führte die zunehmend starke Zuwanderung von Personen aus EU-Staaten dazu, dass aufgrund der zunehmenden Präsenz von Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz Ängste und Unbehagen vermehrt zum Ausdruck gebracht wurden. Die Annahme der Initiative «gegen Masseneinwanderung» am 9. Februar 2014 war Ausdruck dieses Unbehagens und stellte die Schweiz vor eine neue Situation: Der neue Verfassungsauftrag verlangte die Wiedereinführung von Kontingenten für alle aus dem Ausland Zugewanderten sowie die Einführung von Kontingenten für Grenzgängerinnen und Grenzgänger unter Berücksichtigung des Vorrangs von Schweizerinnen und Schweizern. Diese Bestimmungen waren jedoch nicht vereinbar mit der Personenfreizügigkeit zwischen EU und der Schweiz und gefährdeten damit das ganze Paket der Bilateralen. Die Auflage war, die Bestimmungen innerhalb von drei Jahren umzusetzen.
Um die bilateralen Abkommen mit der EU nicht zu gefährden, schlug der Bundesrat anstelle von fixen Kontingenten einen sogenannten «Inländervorrang light» vor. Nach langem Ringen sprach sich der Nationalrat in der Herbstsession 2016 für die Vorlage des Bundesrates aus, in der Wintersession folgte der Ständerat dem Nationalrat. Beide Kammern einigten sich auf ein Gesetz, das mit dem Freizügigkeitsabkommen kompatibel ist und eine Einigung mit der EU daher nicht nötig ist. Am 28. Juni 2017 schickte der Bundesrat die Verordnungsänderungen zur Umsetzung des Ausführungsgesetzes zu Artikel 121a BV in die Vernehmlassung. Die Vernehmlassung lief bis am 6. September 2017. Am 1. Juni 2018 traten die Bestimmungen zum Inländervorrang light in Kraft.
Der «Inländervorrang light» sieht eine Stellenmeldepflicht für Berufsarten mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit vor. Während einer Übergangsphase bis 2020 gilt eine Meldepflicht bei einem Schwellenwert von 8 Prozent. Danach wird eine Meldepflicht bei einem Schwellenwert von 5 Prozent festgelegt.
Stand bei der «Masseneinwanderungsinitiative» die Begrenzung der Zuwanderung im Fokus, so lässt sich beim «Inländervorrang light» eine Verschiebung der Zielsetzung feststellen, nämlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. So solle mit dem Inländervorrang light das Instrumentarium der öffentlichen Arbeitsvermittlung erweitert und gestärkt werden. Ziel ist die Förderung der Integration von inländischen Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt.
Vorgesehen sind drei Stufen von Massnahmen:
- Der Bundesrat muss dafür sorgen, dass das inländische Arbeitskräftepotenzial besser genutzt wird.
- Überschreitet die Zuwanderung trotzdem einen bestimmten Schwellenwert, kann der Bundesrat Arbeitgeber verpflichten, offene Stellen dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zu melden.
- Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen sind gemäss den Beschlüssen des Nationalrats auch «weitergehende Abhilfemassnahmen» möglich
Die EKM begrüsst grundsätzlich die Lösung mit dem Inländervorrang light. Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und bei der Zuwanderung verlangen jedoch mehr als die geplante Umsetzung des «Inländervorrangs light», um den nachhaltigen Zugang für Einheimische und Zugewanderte zum Arbeitsmarkt auch in Zukunft zu sichern. Es braucht verschiedenste Massnahmen, die verstärkt auf das inländische Potenzial ausgerichtet sind. Globalisierung und Digitalisierung bringen es mit sich, dass die Nachfrage nach besser qualifizierten Personen wächst. Auch die Zusammensetzung der Zuwanderungsgruppen hat sich verändert. Jede zweite Person kommt als Angehörige im Familiennachzug, als Studierende oder als Asylsuchende in die Schweiz. Es braucht neue Strukturen, die diesem Wandel gerecht werden und für alle, Einheimische und Zugewanderte, Perspektiven für einen nachhaltigen Zugang zum Arbeitsmarkt schaffen.
Im Positionspapier zu Wirtschaft und Arbeit präsentiert die EKM vier Hauptanliegen.
Materialien
- Positionspapier Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» der EKM (PDF, 281 kB, 31.08.2020)
- Studie zu 50 Jahre Diskurse über das Fremde (PDF, 986 kB, 03.06.2020)
- Steuerung der Zuwanderung. Stellungnahme EKM zu den Verordnungsanpassungen im Rahmen der Umsetzung von Art. 121a BV
- Positionspapier: Wirtschaft und Arbeit im Fokus (PDF, 385 kB, 30.11.2017)
- Medienmitteilung: Zugang zum Arbeitsmarkt neu denken
- Position der EKM: 10 Punkte gegen eine neue Kontingentspolitik
Veranstaltungen
-
EKM-Jahrestagung 2016
Arbeiten in der Migrationsgesellschaft
-
EKM-Jahrestagung 2012
Zuwanderungspolitik: Öffnung und Abwehr im Widerstreit
Letzte Änderung 24.06.2024