Zu welchen Orten auf der Welt haben Sie eine Verbindung? Pflegen Sie Kontakte zu Personen ausserhalb der Schweiz? Senden Sie vielleicht Geld oder andere Güter an Verwandte, Freunde oder an ein Patenkind im Ausland? Oder halten Sie sich wegen Ihrer Arbeit häufig in einem anderen Land auf? Haben diese Verbindungen einen Einfluss auf Ihren Alltag? Sind diese Beziehungen für Ihr Selbstverständnis, Ihre Identität von Bedeutung?
Transnationale Phänomene existieren in sehr verschiedenen Formen. Manche Aspekte Ihres Lebens können möglicherweise als transnational bezeichnet werden. Nicht alle Personen werden jedoch gleichermassen von transnationalen Aspekten geprägt, und nur wenige sind dauerhaft transnational aktiv.
Was ist Transnationalität?
Der Begriff «transnational» besteht aus der Vorsilbe «trans» und dem Wort «natio». Dies kann übersetzt werden mit «überstaatlich» oder «jenseits des Nationalstaats». Damit umschreibt der Begriff Phänomene, welche sich nicht auf einen Nationalstaat begrenzen lassen.
Kommunikation, Handlungen, Beziehungen
Transnationale Phänomene bestehen aus Beziehungen, Kommunikation und Handlungen zwischen Personen, welche sich über nationale Grenzen hinweg erstrecken. Solche transnationalen Verbindungen können in unterschiedlicher Art und Weise entstehen. Sie existieren beispielsweise aufgrund von privaten Kontakten, können aber ebenso durch Geschäftsbeziehungen oder generell durch die Tätigkeit von Organisationen zustande kommen. Solche Verbindungen werden auch als überstaatliche Netzwerke beschrieben, welche den Handlungsspielraum erweitern und vielseitige Ressourcen zugänglich machen.
Kein neues Phänomen
Migration hat nicht automatisch den Bruch zwischen einer Person und ihrem Umfeld zur Folge. Dass Menschen über weite geografische Distanzen miteinander kommunizieren und ihre Beziehungen aufrechterhalten, ist dabei kein neues Phänomen. Bereits lange vor den technischen Innovationen des 20. Jahrhunderts wurden ferne Kontakte beispielsweise mittels Briefen aufrechterhalten. Durch die neuen Transportmittel und Kommunikationstechnologien wurden jedoch die Handlungsspielräume vergrössert. Die Mobilität wie auch die Informationsübermittlung wurden vereinfacht, beschleunigt und wesentlich billiger. Die Aufrechterhaltung enger Kontakte über grosse Distanzen wurde dadurch massgeblich erleichtert. Daher gewannen die verschiedenen Formen transnationaler Netzwerke massiv an Bedeutung.
Eine neue Perspektive
Obwohl diese transnationalen Phänomene keine neuen Vorkommnisse sind, wurden sie lange Zeit nicht als solche erkannt. Der Grund ist einfach. Wenn man etwas aus einer nationalen Perspektive betrachtet, geht der Blick nur bis zur nationalen Grenze, nicht weiter. Erst Diskussionen über Globalisierung, die Beobachtung von Migration und weiteres haben den Blick für Überstaatliches geöffnet. Transnationalität ist daher kein neues Phänomen, sondern eine neue Perspektive!
Diese Perspektive ist auch dann relevant, wenn wir eine Person und ihre gesellschaftliche Integration betrachten. Ihr soziales, kulturelles, ökonomisches und politisches Kapital beschränkt sich möglicherweise nicht nur auf einen nationalen Kontext. Vielleicht ist diese Person einmal oder mehrmals migriert. Dabei können ihre Verbindungen mit anderen Orten auf der Welt zu ihrer Identität, ihrem Wissen, ihrem Erfahrungsreichtum und ihrem gesellschaftlichen Kapital beigetragen haben. Eine Person ist nicht nur, wer sie in einem nationalen Kontext ist, sondern auch, wer oder was sie woanders ist. Dies trifft nicht nur auf die Migrationsbevölkerung der Schweiz zu, sondern auf alle Personen, deren Leben nicht ausschliesslich in einem nationalen Kontext stattfindet. Viele Personen haben eine Verbindung zu Bekannten oder Verwandten im Ausland. Manche sind auch durch einen Auslandaufenthalt geprägt. Solche transnationalen Aspekte sind ein Teil der Geschichte vieler Menschen. Diese Perspektive macht nicht nur Transnationalität sichtbar. Auch die Trennlinie von Personen mit und ohne Migrationshintergrund wird in diesem Sinne unscharf.
Ein wissenschaftliches Konzept – für die politische Praxis?
In der Wissenschaft bestehen verschiedene Ansätze zum Thema Transnationalität. Damit handelt es sich nicht um ein einheitliches wissenschaftliches Konzept. Dennoch haben die theoretischen Ansätze vieles gemeinsam. Ein zentrales Anliegen dieser Perspektiven ist es, die wissenschaftliche Forschung von einem sogenannten «methodologischen Nationalismus» zu befreien. Methodologischer Nationalismus bedeutet, dass Forscher eine nationale Perspektive einnehmen, ohne darüber nachzudenken. Die nationale Grenze wird sozusagen als natürliche Grenze für wissenschaftliche Untersuchungen angenommen. Der Wechsel hin zu einer transnationalen Perspektive ermöglicht eine andere Wahrnehmung. Die Beobachtung von gesellschaftlichen Phänomenen wird nicht automatisch auf nationale Grenzen beschränkt, und es besteht eine Offenheit gegenüber transnationalen Aspekten. Dazu wird beispielsweise der geografische Rahmen einer Forschung bewusst gewählt und im Hinblick auf die Ergebnisse diskutiert. Wie die Migrationsforschung zeigt, kann die Wissenschaft dadurch neue Erkenntnisse gewinnen. Diese können auch für die politische Praxis nutzbar gemacht werden.
Letzte Änderung 19.06.2024