Intervista, 20 maggio 2022: Tagesanzeiger; Charlotte Walser, Luca De Carli
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Tagesanzeiger: "Die Bundesrätin sagt, was die Zehntausenden Geflüchteten die Schweiz kosten, und kündigt Änderungen an: Menschen aus der Ukraine sollen nicht beliebig lange in ihre Heimat reisen dürfen."
Frau Bundesrätin, erste Forderungen werden laut, die Regeln für Ukraine-Flüchtlinge zu verschärfen. Die Solidarität scheint zu bröckeln. Teilen Sie diesen Eindruck?
Nein, ich habe den Eindruck, dass die Solidarität noch immer gross ist. Doch die Gefahr, dass sie mit der Zeit abnimmt, besteht. Das war von Anfang an klar. Wichtig ist, dass wir unsere Arbeit gut machen. Die Bevölkerung muss sicher sein können, dass nur jene den Schutzstatus S erhalten, die dazu berechtigt sind. Gemeinsam mit den Kantonen müssen wir sicherstellen, dass es nicht zu Missbräuchen kommt. Wenn das gelingt, glaube ich, dass die Solidarität bleibt.
Von rechter Seite wird kritisiert, dass auch Menschen anderer Herkunft, die aus der Ukraine geflüchtet sind, den Status S erhalten.
Fast 98 Prozent der Flüchtlinge sind ukrainischer Nationalität. Hinzu kommen Personen, die in der Ukraine einen Flüchtlingsstatus oder eine permanente Aufenthaltsbewilligung hatten. Der Bundesrat hat in Anlehnung an die EU-Regelung entschieden, dass diese gleich behandelt werden wie ukrainische Flüchtlinge. Da geht es um Menschen, die zum Teil schon 20 Jahre in der Ukraine gelebt und gearbeitet haben. Dazu kommen Angehörige von Ukrainern mit anderer Nationalität, zum Beispiel Russen und Weissrussen.
Die SVP hat die Idee lanciert, dass nur noch Menschen aus der Ostukraine den Status S erhalten, da es in der Westukraine inzwischen relativ sicher sei. Ist das eine Option?
Ich frage mich, wie man zur Einschätzung gelangt, es gebe sichere Gebiete. Die täglichen Analysen des Nachrichtendienstes besagen etwas anderes.
Was genau?
Ich habe eben im Bericht des Nachrichtendienstes gelesen, dass in der Nacht auf Dienstag, 17. Mai, die russischen Streitkräfte erneut Ziele im Raum der westukrainischen Stadt Lwiw angegriffen haben.
Sie halten also nichts von dieser Idee.
Es gibt Gebiete, die nicht unter Dauerbeschuss sind. Aber es gibt keine sicheren Gebiete. Die Nachrichtendienste – auch anderer westlicher Länder – sagen klar, in der gesamten Ukraine müsse mit Angriffen gerechnet werden. Rechtlich ist es ohnehin so, dass Ukrainerinnen und Ukrainer im Schengenraum frei reisen können. Abgesehen davon wissen wir nicht, wer aus welchem Landesteil stammt. Es wäre derzeit auch nicht möglich, die genaue Herkunft bei den ukrainischen Behörden abzuklären. Auch politisch finde ich es eigenartig, wenn die Schweiz als einziger Schengenstaat erklären würde, sie halte die Westukraine für sicher. Ob ein Herkunftsstaat sicher ist, muss international koordiniert abgeklärt werden.
Aktuell sind schon über 50’000 ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz. Bis im Herbst könnten es 150’000 sein – mehr als die Stadt Bern Einwohner zählt. Stossen die Kapazitäten an Grenzen?
Es gibt keine Obergrenze. Und nochmals: Die Menschen können ohnehin frei einreisen. Man darf ausserdem nicht vergessen, dass der Status rückkehrorientiert ist. Die Menschen wollen nach Hause. Wann sie zurückkehren können, hängt von der Entwicklung des Krieges und vom Wiederaufbau ab.
Wird sich die Schweiz beim Entscheid, dass eine Rückkehr möglich ist, an der EU orientieren?
Ja, für mich ist das klar. Der Schutzstatus wurde international koordiniert aktiviert. Wir sollten ihn auch zusammen mit der EU deaktivieren. Es wäre nicht sinnvoll, wenn die Schweiz ausscheren würde. Die Staaten werden auch gemeinsam die Voraussetzungen schaffen müssen, dass dereinst eine Rückkehr möglich ist.
Sie lassen nun aber den Status S evaluieren. Mit welchem Ziel?
Das Gesetz stammt von 1999. Jetzt wird der Status das erste Mal angewendet. Da ist es wichtig, dass wir die Erfahrungen laufend auswerten. Schon jetzt. Deshalb setze ich nun eine Evaluationsgruppe ein. Die Gruppe wird auf Basis der Erkenntnisse Änderungen vorschlagen. Klar ist für mich zum Beispiel, dass im Gesetz stehen sollte, die Schweiz koordiniere sich bei der Aktivierung des Schutzstatus S mit den Schengen-Staaten.
Was wollen Sie sonst noch ändern?
Ich könnte mir vorstellen, dass man die Zusammenarbeit mit den Kantonen und mit den Hilfswerken genauer regelt. Weiter sollte sich die Schweiz unkompliziert EU-Registern anschliessen können. Dazu müsste der Bundesrat eine entsprechende Kompetenz erhalten. Aktuell wird in der EU eine Registrierungsplattform geschaffen. Wir sind uns mit der EU einig, dass ein rascher Anschluss der Schweiz sinnvoll wäre. Trotzdem gestaltet sich die Beteiligung der Schweiz ziemlich umständlich.
Ukrainische und andere Kriegsflüchtlinge werden ungleich behandelt. Ist das ebenfalls ein Thema dieser Evaluation?
Die Gruppe hat den Auftrag, den Status S zu überprüfen. Das geschieht natürlich vor dem Hintergrund des gesamten Asylsystems und damit auch unter Einbezug der vorläufigen Aufnahme. Insgesamt finde ich die Diskussion über die sogenannte Ungleichbehandlung nicht fruchtbar. Sie spielt Flüchtlingsgruppen gegeneinander aus. Der Status S hat eine ganz besondere Funktion: die schnelle und unbürokratische Aufnahme einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die direkt von Kriegshandlungen bedroht ist.
Aber die Kantone möchten, dass geprüft wird, den Schutzstatus S nach einem Jahr aufzuheben. Ist das für Sie eine Option?
Der Schutz gilt vorderhand für ein Jahr, also bis März 2023. Auf diesen Zeitpunkt hin prüft der Bundesrat in Absprache mit den Kantonen, wie es weitergeht. Aber die Aufhebung des Schutzstatus kann nur international abgestimmt erfolgen.
Eine schnelle Aufhebung ist also nicht möglich?
Das hängt von Herrn Putin ab und nicht vom Bundesrat. Wenn Russland den Angriff auf die Ukraine beenden würde, wäre eine schnelle Aufhebung möglich, dann würden die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer auch wieder zurückwollen. Es hängt vom Aggressor und vom Kriegsverlauf ab, ob eine Rückkehr möglich, zulässig und zumutbar ist.
Offenbar reisen einzelne Flüchtlinge in die Ukraine, kommen danach aber wieder in die Schweiz. Ist das ein Problem?
Wir diskutieren das derzeit mit den Kantonen. Es zeichnet sich eine neue Regel ab: 15 Tage Aufenthalt in der Heimat pro Quartal sollen künftig erlaubt sein, aber nicht mehr. Wenn Ukrainerinnen und Ukrainer sich länger in der Heimat aufhalten und hier Sozialhilfe beziehen, versteht dies die Bevölkerung nicht. Es ist wichtig, dass solche Fragen frühzeitig angeschaut werden. So wollen wir Sozialhilfemissbrauch verhindern. Wir beraten mit den Kantonen auch darüber, wie verhindert werden kann, dass jemand hier Sozialhilfe bezieht und sich gleichzeitig in der Ukraine oder in einem anderen europäischen Land aufhält.
Sind denn solche Fälle bekannt?
Nein. Ich kann aber nicht ausschliessen, dass es sie gibt. Wenn Gemeinden oder Kantone die Sozialhilfe einfach auf ein Bankkonto auszahlen, könnte das vorkommen. Es handelt sich um ein sensibles Thema. Die Bevölkerung muss sicher sein können, dass nur Hilfe erhält, wer auch dazu berechtigt ist. Sonst gefährden wir die Solidarität.
25’000 Flüchtlinge sind privat untergebracht. Da könnte der Bund mit einer einheitlichen Unterstützungszahlung für die Gastfamilien helfen.
Der Bund zahlt den Kantonen pro Monat eine Subvention von 1500 Franken pro Flüchtling mit Status S – ab dem ersten Tag. Wir zahlen zusätzlich 3000 Franken pro Flüchtling an die Sprachförderung, 500 Franken an die Verwaltungskosten. Der Bund ist sehr grosszügig. Die Kantone, teilweise sogar die einzelnen Gemeinden, entscheiden selber, ob sie mit diesem Geld auch die Gastfamilien entschädigen. Das gehört zu unserem föderalistischen System. Die einen zahlen, die anderen nicht. Wir haben die Kantone aber schon gebeten, einheitliche Empfehlungen abzugeben.
Was schätzen Sie, wie viel wird uns die Flüchtlingskrise im laufenden Jahr kosten?
Derzeit rechnet das Staatssekretariat für Migration für 2022 mit 1,5 Milliarden Franken an Zahlungen an die Kantone. Diese Ausgaben für Sozialhilfe möchte der Bundesrat dem Parlament in diesem und im nächsten Jahr als ausserordentlichen Zahlungsbedarf beantragen. Das sind nicht vorhersehbare Ausgaben. Damit würden sie den ordentlichen Bundeshaushalt nicht belasten und hätten für 2023 auch keine Kürzungen in anderen Bereichen zur Folge.
Und für wie viele Flüchtlinge reichen diese 1,5 Milliarden?
Bei 50’000 Personen rechnen wir mit Kosten von rund einer Milliarde. Bei 100’000 mit zwei Milliarden. Wie viel wir tatsächlich ausgeben werden, hängt vom weiteren Zustrom ab.
Die Schweiz ist mit ukrainischen Flüchtlingen sehr solidarisch. Könnte man auch in anderen Bereichen mehr Solidarität zeigen – etwa bei den Finanzhilfen für die Ukraine?
Ich kann die Entscheide des Bundesrates nicht vorwegnehmen. Die Schweiz organisiert im Juli in Lugano die Konferenz zum Wiederaufbau. Diese ist sicher ein starkes Signal dafür, dass wir an die Zukunft der Ukraine glauben und sich die Schweiz am Wiederaufbau beteiligt. Bei der Bewältigung des Krieges übernehmen verschiedene Staaten unterschiedliche Aufgaben. Es gibt Staaten, die liefern Waffen. Das kann die Schweiz nicht. Unser Beitrag sind die humanitäre Hilfe vor Ort, die Aufnahme von Schutzsuchenden sowie die Übernahmen der internationalen Sanktionen. Die Rolle der Schweiz bei der Aufnahme von Flüchtlingen wird in der Ukraine durchaus anerkannt.
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Ultima modifica 20.05.2022