"Die Situation ist historisch"

Intervista, 9 maggio 2022: Südostschweiz; Olivier Berger

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Südostschweiz: "Als Justizministerin ist Karin Keller-Sutter bei den aktuellen Fluchtbewegungen vor dem Krieg in der Ukraine stark gefordert. Die Situation habe historische Ausmasse, sagt die 58-jährige Bundesrätin. Die Ereignisse liessen sich mit nichts aus der Nachkriegszeit vergleichen. Im Interview spricht Keller-Sutter über die Herausforderungen für die Behörden, aber sie verrät auch, wie die Menschen in der Schweiz den Geflüchteten jetzt helfen können."

Frau Keller-Sutter, als Justizministerin sind Sie für Migration zuständig. Wie herausfordernd ist dieaktuelle Situation mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und den flüchtenden Menschen für die Schweiz?
Die Situation ist historisch, vom Ausmass und von der Geschwindigkeit der Fluchtbewegung. Wir erleben gerade den ersten Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Dieser hat auch die grössten Flüchtlingsströme in Europa seit damals ausgelöst. Es ist essenziell, dass in dieser Situation der Bund, die Kantone und die Gemeinden gut zusammenarbeiten.

Kann man die Situation mit jener während des Kosovokriegs Ende der Neunzigerjahre vergleichen? Auch damals flüchteten viele Menschen nach Westeuropa und in die Schweiz.
Nein, wir haben es heute mit ganz anderen Ausmassen zu tun. Während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien hat die Schweiz 90 000 Geflüchtete aufgenommen – verteilt auf alle Kriege in der Region und über die Jahre. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vor zwei Monaten sind 5,7 Millionen Menschen aus dem Land geflüchtet, bislang fast 50 000 von ihnen allein in die Schweiz.

Das sind also auch für die Schweiz neue Dimensionen?
Ja. Normalerweise verzeichnen wir in der Schweiz rund 1400 Asylgesuche pro Monat. Aktuell kommen im Schnitt pro Tag etwa 600 Menschen zu uns, wir hatten auch schon 1800 – pro Tag. Das hat es in dieser Intensität und Geschwindigkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nie gegeben. Das ist so, weil diese Menschen aus Europa kommen und sie mobil sind. Sie kommen mit dem Auto zu uns und können sich visumsfrei drei Monate im Schengenraum frei bewegen.

War es zu Beginn des Kriegs ein Vorteil, dass sich die Menschen aus der Ukraine rasch und unbürokratisch in Westeuropa in Sicherheit bringen konnten?
Es lebten ja schon vor dem Krieg viele Ukrainerinnen und Ukrainer in ganz Europa. Als der Krieg begonnen hat, teilweise auch schon, als er sich erst abgezeichnet hat, sind viele Menschen zu Verwandten oder Freunden geflüchtet, das stimmt. Sie wussten, dass sie aufjeden Fall drei Monate bleiben können. Die Zahl der Schutzsuchenden stieg sprunghaft an, als man sich bei uns für den Schutzstatus S anmelden konnte. Nur mit diesem Schutzstatus erhalten die Betroffenen ja Sozialhilfe und sind krankenversichert. Die Menschen, die sich zu Beginn registriert haben, kamen sicher nicht alle von aussen, manche waren schon hier.

Geflüchtete werden in der Schweiz nach einem Verteilschlüssel den Kantonen zur Betreuung zugeteilt. Wie unterstützt hier der Bund?
Es gibt einen Notfallplan zwischen Bund und Kantonen. Der Bund hat sich verpflichtet, 9000 eigene Unterbringungsplätze bereitzustellen. Wir haben diese Kapazität dann um 3000 Plätze hochgefahren. In den Bundesstrukturen stehen also 12 000 Plätze zur Verfügung. Und derzeit gibt es über 4000 freie Plätze.

Trotzdem schlagen einige Kantone – darunter auch Graubünden – bereits Alarm, weil die Plätze in den kantonalen Strukturen knapp werden.
Die Schutzsuchenden kommen zur Registrierung für den Schutzstatus S in die Bundesasylzentren. Dort bleiben sie nur wenige Tage. Dann werden sie rasch auf die Kantone verteilt, weil sie ja kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass parallel zur Massenflucht aus der Ukraine weiterhin Menschen aus anderen Regionen bei uns ein Asylgesuch stellen. Diese müssen auch untergebracht und betreut werden. Und für diese Menschen benötigen wir Plätze in den Bundesasylzentren. Bei ihnen dauert der Aufenthalt in den Strukturen länger, weil sie eben ein Asylverfahren durchlaufen.

Sie haben die Ukrainerinnen und Ukrainer angesprochen, welche in einer privaten Unterkunft leben. Wie hoch ist ihr Anteil an den erwähnten rund 50 000 Menschen, die bisher in die Schweiz gekommen sind?
Rund 20 000 Geflüchtete aus der Ukraine sind privat untergebracht. Die meisten – etwa 16 000 Menschen – haben ihre Unterkunft selber organisiert, zum Beispiel über Social Media oder über Kontakte mit Freunden und Bekannten. Die restlichen 4000 wurden durch die dafür zuständige Schweizerische Flüchtlingshilfe vermittelt. Die Flüchtlingshilfe hat sich sehr bemüht, dass passende Unterkünfte für mindestens drei Monate gefunden werden und es nicht zu Wechseln kommt. Das braucht Zeit.

Allerdings gibts es jetzt – nach anfänglich grosser Solidarität – eine gewisse Ernüchterung auf beiden Seiten: Bei Schweizer Gastfamilien und bei den Geflüchteten.
Das ist verständlich. Bei allem guten Willen – Menschen aus einem Kriegsgebiet privat bei sich aufzunehmen, ist eine riesige Herausforderung. Die Vertriebenen, welche durch die Flüchtlingshilfe an Private vermittelt werden, werden professionell begleitet und betreut. Suchen sie auf eigene Faust eine Unterkunft, ist die Begleitung durch die Flüchtlingshilfe nicht sichergestellt. Das kann auf beiden Seiten zu Frustrationen führen.

Was soll man tun, wenn man trotzdem Geflüchtete bei sich aufnehmen will?
Man muss sich gut informieren. Dafür kann man sich an das kantonale Migrationsamt oder an die Wohngemeinde wenden.

Wie können wir Schweizerinnen und Schweizer den Menschen aus der Ukraine sonst helfen?
Momentan natürlich durch Spenden, zum Beispiel über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Was sich in einigen Regionen der Ukraine derzeit abspielt, zum Beispiel in Mariupol, ist eine riesige humanitäre Katastrophe. Es fehlt an allem, an Grundnahrungsmitteln und Medikamenten. Hier leisten internationale Organisationen vor Ort humanitäre Hilfe.

Wie meistert eigentlich der Kan-ton Graubünden aus Ihrer War-te die aktuellen Herausforderungen?
Marcel Suter, der Leiter des kantonalen Amts für Migration und Zivilrecht, ist auch Präsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden. Er spielt in seiner Funktion eine wichtige Rolle im Sonderstab Asyl, den wir ins Leben gerufen haben. Aber abgesehen davon nimmt in der aktuellen Situation kein Kanton eine besondere Rolle ein. Wichtig ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden gut funktioniert. Wir wissen aber, dass wir auf Graubünden immer zählen können. Marcel Suter ist ein sehr verlässlicher Partner.

Der Bündner Regierungsrat Jon Domenic Parolini hat im Rückblick auf seine Präsidentschaft bei der Ostschweizer Regierungskonferenz den Austausch mit Ihnen gelobt. Sehen Sie sich auch als Bundesrätin der Ostschweiz?
Ja, selbstverständlich. Die Ostschweiz ist meine Heimat. Ich gehe eigentlich fast jedes Wochenende nach Hause. Bern ist eine Welt für sich. Ich meine das nicht negativ, aber in Bern lebt man in einer Blase und man vergisst, dass es da noch Land rundherum gibt. In Bern steht zwar das Bundeshaus, aber Bern ist nicht die Schweiz (lacht). Ich möchte auch den Kontakt halten – zu Freunden und Bekannten, aber auch zu den Menschen in den Regionen. Und die Ostschweiz ist eine Region mit einem ausgesprochenen Charakter …

… eine Region, zu der Sie auch Graubünden zählen?
Auf jeden Fall. Obwohl Graubünden innerhalb der Ostschweiz auch ein wenig etwas Eigenes ist. Es ist ein sehr spezieller Kanton, nur schon wegen der Dreisprachigkeit. Aber ich komme aus St. Gallen, der Kanton beginnt ja direkt da hinten (zeigt) an der Bündner Grenze (lacht).

Wenn Sie die Ostschweiz schon gut kennen: Wo drückt in der Region der Schuh?
Eigentlich geht es der Ostschweiz gut. Als Regierungsrätin habe ich immer gesagt: «Man soll nicht zum Fürsten gehen, wenn der Fürst nicht ruft.» (lacht) Was ich damit meine ist, dass man nicht an den Bund gelangen sollte, wenn man Probleme selber lösen kann. Die Ostschweiz fühlt sich manchmal etwas vernachlässigt. Ich sehe das nicht so. Was mich manchmal erstaunt ist, wie wenig bekannt die Ostschweiz in der restlichen Schweiz ist.

Ist sie das?
Sie würden staunen, wie viele Menschen ich in Bern treffe, die noch nie in St. Gallen waren (lacht). Graubünden kennt man noch eher, weil es ein bekannter Tourismuskanton ist. Aber der Rest der Ostschweiz ist in der übrigen Schweiz Terra incognita. (lacht)

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Ultima modifica 09.05.2022

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