Interview, 25 juillet 2024: Schweizer Familie; Daniel Röthlisberger
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Kaum war er im Amt, musste er in Bundesbern Kritik einstecken – auch aus den eigenen Reihen. Für Beat Jans kein Problem. Denn als Bundesrat sieht sich der Sozialdemokrat nicht in erster Linie der «Classe politique» verpflichtet, sondern der ganzen Nation.
Herr Bundesrat, würden Sie am 1. August die Nationalhymne am liebsten solo singen?
Das wäre mir zu eintönig. Aber wie kommen Sie denn darauf?
Sie sangen schon an einer Versammlung allein. An Ihrer Wahlfeier gaben Sie einen Rap zum Besten.
Ich musiziere gern. Aber das tue ich am liebsten mit anderen. Deshalb spiele ich in der Freizeit in einer Band – als Schlagzeuger und als Sänger.
Was macht Ihre Freude am Gesang aus?
Wenn ich singe, arbeite ich mit dem Zwerchfell und dem Herz. So erhole ich mich. Zudem kann die Musik Menschen verbinden. Das ist mir kürzlich wieder bewusst geworden.
Inwiefern?
Ich war in Serbien und habe dort den Innenminister getroffen. Ich wusste, dass er gern singt. Als dann eine Band aufspielte, forderte ich ihn zum Ständchen auf.
Leistete er Ihrem Aufruf Folge?
Ohne zu zögern. Also stand er am Mikrofon, und ich sass am Schlagzeug. Unser gemeinsames Musizieren hatte eine ebenso positive Wirkung auf unsere Beziehung wie die Gespräche, die wir miteinander führten.
Am Nationalfeiertag treten Sie als Redner auf. Mit welcher Botschaft?
Ich plädiere für mehr Zusammenarbeit. So ist unser Land entstanden. Kooperation hat die Schweiz stark gemacht. Packen wir gemeinsam etwas an, erreichen wir mehr. Dafür braucht es aber auch die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und ab und zu einen Kompromiss zu schliessen.
Fehlt es heute an dieser Kompromissbereitschaft?
Ich finde, ja. Unsere Gesellschaft ist immer stärker polarisiert. Viele fokussieren sich darauf, was uns unterscheidet, und vergessen, was wir aneinander haben. Bei dieser Entwicklung spielen auch die sozialen Medien eine wesentliche Rolle.
Weil dort der Egoismus zelebriert wird?
Das hat nicht nur mit Egoismus zu tun, sondern auch mit fehlender Offenheit. Viele Leute verstehen immer weniger, was andere denken, weil sie sich nur noch in ihren Kreisen im Internet bewegen und sich gegenseitig bestätigen. Sie vergessen, dass da noch Menschen sind, die eine andere Meinung haben und die es zu respektieren gilt.
Der Handykonsum dürfte Sie auch zu Hause beschäftigen. Ihre beiden Töchter sind im Teenageralter. Wie gehen Sie in Ihrer Familie damit um?
Auch wir mussten Regeln aufstellen. Bei uns gab es erst mit zwölf ein Handy. Wir haben uns zudem auf eine Beschränkung des Handykonsums geeinigt. Aber ich gebe zu, es braucht Nerven und Kraft.
Hat sich Ihr Einsatz gelohnt?
Auf jeden Fall. Heute verbringen unsere Kinder weniger Zeit am Mobiltelefon. Die Jüngere ist in der Pfadi, die Ältere hilft auf einem Hof mit Therapiepferden. Der physische Kontakt mit Menschen und Tieren tut ihnen spürbar gut.
Taugt Ihr Familienrezept auch für uns als Gesellschaft?
Das lässt sich nicht direkt anwenden. Aber wir sollten mehr Zeit in Gesellschaft anderer verbringen. Weniger übereinander und mehr miteinander reden.
Das haben Sie am 1. August vor. Sie brunchen auf einem Bauernhof. Ist das für Sie, der eine landwirtschaftliche Lehre gemacht hat, ein Heimspiel?
Bei den Bauern fühle ich mich zu Hause. Als Bundesrat bin ich allerdings weit weg vom bäuerlichen Alltag. Immerhin versuche ich, das in den Ferien zu ändern.
Wie?
Ich helfe gelegentlich bei einem befreundeten Ehepaar aus, das im Jura einen Bauernhof führt. So habe ich die beiden im letzten Herbst und in diesem Frühjahr ein paar Tage vertreten. Ich habe die Kühe gemolken, den Stall ausgemistet und die Tiere gefüttert.
Andere liegen in den Ferien am Strand. Warum stehen Sie gern im Stall?
Für mich ist das ein Ausgleich. Sobald ich mit den Händen arbeite, wird mein Kopf frei. Als Jugendlicher war die Lehre eine Lebensschule. Auf dem Hof lernte ich arbeiten. Davon profitiere ich bis heute. Es braucht viel, bis ich sage: Ich kann nicht mehr.
Sie sind als Sohn eines Metallbauschlossers aufgewachsen. Wie hat Ihre Herkunft Sie geprägt?
Ich kenne die Sorgen und Nöte von Menschen, die wenig verdienen. Auch sie sollen eine Chance haben, sich zu entwickeln. Davon habe ich profitiert. Als Arbeitersohn durfte ich dank Stipendien das Gymnasium besuchen und studieren. Das sollte sich nie ändern.
Sind Sie auch deshalb in der Politik?
Politisiert wurde ich weit weg von meiner Heimat. Nach dem Studium zum Agrotechniker war ich auf Haiti in der Entwicklungszusammenarbeit im Einsatz. Dort widerfuhr mir eine Geschichte, die mein Leben verändert hat.
Was geschah damals?
Ich erlebte, wie einer meiner lokalen Freunde unschuldig in die Mühlen des Staates geriet. Er wurde verhaftet und gefoltert. Die Ohnmacht, die ich damals empfunden habe, bewegt mich bis heute.
Was löste dieses Erlebnis bei Ihnen aus?
Mir wurde bewusst, was es bedeutet, wenn der Rechtsstaat nicht funktioniert. Dann ist der Einzelne den Mächtigen schutzlos ausgeliefert. Es gilt das Recht des Stärkeren. Deshalb wollte ich zu Hause als Politiker mithelfen, dass wir dem wertvollen Gut der Demokratie Sorge tragen.
Sie sind Justizminister und führen mit dem Asylwesen ein heikles politisches Dossier. Sie werden von links bis rechts kritisiert. Wie zermürbend ist das?
Ich lebe mit der Kritik. Als Bundesrat muss ich mich auch mal gegen die eigene Partei stellen. Denn ich bin für alle da. Ich besuche die Gemeinden, rede mit den Leuten und schaue mir die Probleme an.
Diese Probleme kennen Sie auch aus eigener Erfahrung. Sie wohnen mit Ihrer Familie im Basler Matthäusquartier, das mit Begleiterscheinungen der Zuwanderung kämpft – wie zum Beispiel mit Drogen und Kriminalität. Wie prägt das Ihren Alltag?
Wir haben heikle Situationen erlebt. Meiner Frau wurde mehrmals die Handtasche gestohlen. Und unsere Kinder waren beim Schulhaus mit Kriminalität und Gewalt konfrontiert. Wir mussten auch schon die Polizei rufen. Aber wir sehen im Quartier vor allem viel Positives.
Inwiefern?
Kleinbasel ist ein freundlicher, lebendiger Ort. Dort leben Menschen aus verschiedenen Nationen friedlich zusammen. Unsere Töchter lernen andere Kulturen und Sprachen kennen. Dabei erfahren sie, dass die Zuwanderung auch ein Gewinn ist und dass wir die Herausforderungen meistern können.
Sie haben kurz nach Amtsantritt im Asylwesen eine härtere Gangart angeschlagen und ein 24-Stunden-Verfahren für Migranten aus Marokko, Tunesien und Algerien eingeführt. Haben die negativen Erlebnisse in Ihrem Quartier Sie dabei beeinflusst?
Die haben mitgespielt. Aber ich wollte vor allem ein Problem angehen, das seit längerem besteht. Viele Menschen kommen in die Schweiz, obwohl sie wissen, dass sie kein Asyl bekommen. Sie suchen Unterschlupf. Für sie haben wir diese beschleunigten Verfahren geschaffen. So bekommen diese Leute rasch Klarheit und müssen nach einem negativen Entscheid unser Land verlassen.
Damit würden Sie den Asylstatus untergraben, kritisierte die SP, Ihre eigene Partei.
Ich sehe das anders. Unser Asylsystem ist nicht für jene da, die nur vorübergehend eine Unterkunft wollen. Die Massnahme zeigt übrigens Wirkung. Inzwischen kommen gut vierzig Prozent weniger Menschen aus den betroffenen Ländern in die Bundesasylzentren. Das schafft Platz, den wir dringend benötigen. Und die Mitarbeitenden können jene besser betreuen, die wirklich unseren Schutz brauchen.
Am besten könne man Flüchtlinge integrieren, wenn sie arbeiten dürften. Dies postulieren Experten seit längerem und betonen, man könnte so den Arbeitskräftemangel entschärfen. Was sagen Sie dazu?
Ich teile diese Ansicht. Wir werden in Zukunft auf die Migrantinnen und Migranten angewiesen sein, um die Dienstleistungen aufrechterhalten zu können. Da denke ich etwa an die Post, ans Gesundheitswesen oder an den Bau. Dort fehlen bald Tausende Arbeitskräfte. Deshalb werde ich mich dafür einsetzen, dass wir Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen langfristig in den Arbeitsmarkt integrieren, statt neue Leute ins Land zu holen. Davon profitieren am Ende alle.
Das Beispiel der Ukraine zeigt, wie schwer die Integration in den Arbeitsmarkt ist. Obwohl diese Flüchtlinge arbeiten dürfen, hat bisher nur jeder und jede Vierte einen Job gefunden.
Deshalb haben wir Massnahmen ergriffen. Wir nehmen die Geflüchteten in die Pflicht, sprechen die Firmen an und spannen die regionalen Arbeitsvermittlungsstellen ein. So werden wir den Anteil nach und nach steigern können. Aber es braucht alle, damit das gelingt.
Sie sind seit sieben Monaten im Amt. Die Bilder vom Jubel Ihrer Familie nach der Wahl sind noch präsent. Ist Ihren Liebsten wegen der hohen Arbeitsbelastung die Freude vergangen?
Nein. Aber unser Familienleben hat sich verändert. Ich wohne die Woche über in Bern. Und wenn wir unterwegs sind, stehen wir ständig im Mittelpunkt. Das hat unserer Beziehung jedoch nicht geschadet. Im Gegenteil: Unser Zusammenhalt ist noch stärker. Ich rufe meine Töchter abends an. Meine Frau begleitet mich an Anlässe. Sie mag Menschen und kann gut auf sie zugehen.
Obwohl sie sich nicht für Politik interessiert, wie sie schon erklärte.
Das ist heute anders. Wir diskutieren viel über Politik. Das hat nicht nur mit meinem Amt zu tun. Als amerikanischschweizerische Doppelbürgerin erlebt Tracy, wie zerrissen ihre Heimat ist. Und sie ist fasziniert, wie gut unser politisches System funktioniert.
Früher teilten Sie sich mit Ihrer Frau die Hausarbeit. Wie oft sind Sie heute Hausmann?
Nur am Wochenende und in den Ferien. Ich putze, räume auf. Am liebsten aber stehe ich am Herd.
Was kommt auf den Tisch, wenn Sie der Koch sind?
Ich mache keine aufwendigen Menüs mehr. Dafür fehlt mir die Zeit. Aber ich koche Spaghetti, bereite eine Rösti zu oder mache einen Auflauf.
Und erholen sich dabei ebenso gut wie beim Singen?
Und ob! Ich nehme die Gemüsewähe aus dem Ofen und denke: «Jetzt hast du wieder mal etwas Schlaues gemacht. Und alle freuen sich.» Das kann ich als Bundesrat nicht jeden Tag sagen.
Dernière modification 25.07.2024