Interview, 12 juillet 2022: CH Media; Kari Kählin, Chiara Stäheli
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St. Galler Tagblatt: "Bundesrätin Karin Keller-Sutter über den hohen Migrationsdruck, den Ausstieg aus dem Schutzstatus S und die Idee der freiwilligen Umverteilung von Geflüchteten."
Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, eine sich abzeichnende Strommangellage, eine Krise jagt die andere: Wie gut schlafen Sie?
Ich schlafe gut, danke. Aber Sie haben recht: Der russische Angriffskrieg hat politische, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen, die sich in den kommenden Monaten noch verschärfen dürften. Die Migration ist ein emotionales Thema, das man politisch einfach instrumentalisieren kann. Ich denke aber, das Hauptthema wird die wirtschafts-und energiepolitische Lage sein.
Wenn es in den Stuben nur noch 18 Grad warm ist, die Lebensmittel teurer werden und die Sanktionen Putins Regime weiterhin nicht gefährden: Verflüchtigt sich dann die Solidarität?
Ich habe die Lage seit Ausbruch des Krieges stets realistisch beurteilt und darauf hingewiesen, dass es auch eine emotionale Durchhaltefähigkeit braucht. Wenn die Bilder des Krieges langsam aus den Medien verschwinden, wenn sich die Situation in gewissen, auch von Ihnen genannten Bereichen negativ entwickelt, dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Solidarität mit der Ukraine schwindet. Die Inflation im Euroraum beträgt im Durchschnitt 8,5 Prozent. Wenn sie weiter steigt, die Lieferkettenproblematik sich verschärft, die Energiekrise ihre Auswirkungen zeigt, dann wird die Solidarität in Westeuropa mit der Ukraine auf den Prüfstand gestellt. Bezüglich der Inflation steht die Schweiz zwar besser da als der Euroraum. Wenn Europa in eine Rezession rutscht, kann es aber auch unser Land treffen.
Die Solidarität mit den Geflüchteten ist in der Schweiz nach wie vor gross.
Und ich bin der Bevölkerung dafür sehr dankbar, auch für die private Unterbringung. Man spricht in den Medien meistens über die negativen Beispiele. Aus meinem Bekanntenkreis zum Beispiel höre ich aber von vielen positiven Erfahrungen. Die grosse Solidarität hat auch damit zu tun, dass 80 Prozent der Geflüchteten Frauen und Kinder sind. Die Menschen verstehen, dass Krieg herrscht und die Frauen sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen. Dazu kommt die geografische Nähe. Mit dem Auto fährt man von Buchs SG in zwölf Stunden an die ukrainische Westgrenze.
Müsste die Schweiz nicht mehr tun, um der Ukraine zu helfen?
Man hat oft von der Schweiz verlangt, Waffen zu liefern. Doch es können nicht alle Länder die gleiche Rolle spielen. Ich glaube, die Schweiz leistet auf ihre Art einen Beitrag: Sie trägt die Sanktionen gegen Russland mit, nimmt Schutzsuchende auf und leistet in der Ukraine humanitäre Hilfe. Zudem hat die Schweiz eine erste Wiederaufbau-Konferenz organisiert.
Der Bund rechnet bis Ende Jahr mit bis zu 140000 ukrainischen Flüchtlingen. Reicht für deren Aufnahme die Infrastruktur aus?
Die Unterbringung der Geflüchteten ist grundsätzlich Sache der Kantone. Der Bund unterstützt sie, wo er kann. Aber niemand weiss, wie viele es sein werden. Im Sonderstab Asyl wurde vereinbart, dass die Kantone und die Gemeinden über den Sommer die weiterführende Unterbringungsplanung machen und Notfallpläne entwickeln. Man muss dabei auch akzeptieren, dass es Unterkünfte gibt, die einem vielleicht nicht so komfortabel erscheinen. Man hat beispielsweise die Container-Lösungen der Stadt Bern kritisiert; aber die Alternative wären Zivilschutzunterkünfte, auch unterirdische. Klar ist: Der Zustrom an Geflüchteten hängt davon ab, wie sich der Krieg in den nächsten Monaten entwickelt. Das ist alles sehr volatil und nicht vorhersehbar, deshalb arbeitet der Bund mit verschiedenen Szenarien. Im Moment rechnet das Staatssekretariat für Migration aber mit deutlich weniger als 140000 Personen.
Wie sieht der Zustrom denn im Moment aus?
Die Zahlen sind rückläufig, der Zustrom in die Schweiz hat deutlich abgenommen. Es reisen auch wieder Menschen zurück. Wie viele das sind, können wir nicht genau sagen. Aus Polen zum Beispiel hören wir, dass sich die Ein-und Ausreisen im Moment etwa die Waage halten. Es wäre zu wünschen, dass die Lage so ruhig bleibt.
Sie sagen es selbst: Im Moment ist es ruhig, vor allem im Westen der Ukraine. Wäre also nun der richtige Zeitpunkt, Geflüchtete aus der Westukraine wieder dorthin zurückzuschicken?
Nein. Es trifft zwar zu, dass sich die Intensität der Kampfhandlungen vor allem auf den Süden und den Osten konzentriert. Aber die russische Armee bombardiert immer wieder auch Ziele im Westen. Das geschieht bewusst. Putin will die Bevölkerung einschüchtern und Unsicherheit verbreiten. Eine allfällige Rückkehr in gewisse Regionen müsste zudem international koordiniert und überwacht werden. Was sicher ist: Der Status S ist rückkehrorientiert. Auch wenn die Aufhebung des temporären Schutzes noch weit weg erscheint, habe ich dem SEM bereits vor zwei Wochen den Auftrag erteilt, alle Fragen rund um die allfällige Rückkehr gemeinsam mit den Kantonen zu klären. Der Status S wurde vorerst bis im März 2023 aktiviert. Er kann zwar verlängert werden, aber es reicht nicht, wenn wir erst Ende Jahr überlegen, wie wir einen allfälligen Ausstieg gestalten.
Welche Fragen gilt es zu klären?
Einerseits müssen wir anschauen, wie sich der ganze Schengen-Raum positioniert und welche Personengruppen allenfalls zurückgeführt werden können. Gibt es Priorisierungen? Gibt es Härtefälle? Gibt es Rückkehrprogramme? Die Rückkehr ist ja auch Teil des Wiederaufbaus der Ukraine. Das hat der Bundesrat schon festgestellt, als er den Status S als Antwort auf die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo schuf. All diese Fragen müssen wir jetzt klären, auch mit der Expertise, die wir bei der Rückkehr nach dem Kosovokrieg gesammelt haben.
Gehen Sie nach wie vor davon aus, dass eine Mehrheit der Personen mit Status S zurückkehren wird, sobald es die Situation zulässt?
Ja. Die Leute äussern diesen Wunsch konstant. Sie wollen auch einen Beitrag leisten zum Wiederaufbau der Ukraine. Dieser Wunsch, zurück in die Heimat zu gehen, unterscheidet die ukrainischen Geflüchteten deutlich von anderen Flüchtlingen. Dennoch können wir nicht ausschliessen, dass es Fälle gibt von Leuten, die hierbleiben wollen.
War die Rückkehr auch Thema an der Konferenz der Schengen-Innenministerien in Prag, an der Sie gestern teilgenommen haben?
Ja. Ich habe in Prag unter anderem ein Gespräch mit dem ukrainischen Innenminister geführt. Er hat mir gesagt, dass sie ihre Leute, die geflüchtet sind, in der Ukraine für den Wiederaufbau bräuchten. Er begrüsst es deshalb auch, dass wir in der Schweiz bereits offene Fragen zur Rückkehr klären.
Worüber wurde in Prag sonst noch gesprochen?
Ein grosses Thema war der erhöhte Migrationsdruck, der derzeit auf allen Fluchtrouten erkennbar ist. Er hat höchstens indirekt mit dem Ukraine-Krieg zu tun, bereitet den Schengen-Staaten aber grosse Sorgen.
Im Moment haben bloss etwas mehr als 6 Prozent der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter eine Arbeitsstelle. Warum liegt dieser Wert so tief?
Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass die Erwerbsquote bei ukrainischen Geflüchteten höher ist als bei anderen Flüchtlingsgruppen. Die grösste Hürde ist auf jeden Fall die Sprache. Ich habe mich letzte Woche mit meinem tschechischen Kollegen ausgetauscht, er macht die gleiche Beobachtung. Angesichts der vielen offenen Stellen in der Schweiz wäre die Ausgangslage gut für die Integration in den Arbeitsmarkt. Doch es braucht auch das Engagement der Wirtschaft. Es gibt Branchen, die jetzt Einführungs- oder eigene Deutschkurse anbieten.
Der Bund zahlt den Kantonen eine Pauschale von 3000 Franken pro Person für Sprachkurse. Müsste er diesen Beitrag nicht erhöhen, um die Integration der ukrainischen Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu forcieren?
Ich finde diese Pauschale sehr grosszügig. Grundsätzlich ist Integration Sache der Kantone. Der Bund unterstützt hier mit einem angemessenen Beitrag. Und für eine gelungene Integration braucht es immer auch Eigeninitiative und privates Engagement.
Die EU kann sich nicht auf einen Verteilschlüssel bei Asylgesuchen einigen. Wie wirken Sie dem entgegen?
Ich habe mich in den vergangenen Jahren immer eingesetzt für eine Revision des europäischen Asylsystems. Wir unterstützen den Ansatz, den Frankreich während seiner EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr wählte: nicht das gesamte Paket auf einmal bringen, sondern schrittweise Reformen vorantreiben in jenen Bereichen, in denen ein Konsens besteht. Prioritär ist dabei der verstärkte Schutz der Aussengrenzen. Zudem soll ein Solidaritätsmechanismus greifen, um besonders belastete Erstaufnahmeländer zu entlasten.
Die Schweiz übernimmt also freiwillig Asylsuchende. Wie funktioniert das genau?
Derzeit nicht, nein. Eine Umverteilung kommt für uns nur in Frage, wenn ein Mitgliedstaat nicht mehr selber in der Lage wäre, einen Ansturm zu bewältigen, also in der Krise. Darum haben wir im Kontext des Ukraine-Kriegs auch Hand zur Übernahme von ukrainischen Schutzsuchenden aus Moldawien geboten. Es ist aber auch eine finanzielle Unterstützung oder die Entsendung von Personal zur Registrierung von Asylsuchenden möglich.
Übernimmt die Schweiz automatisch Asylsuchende, wenn zum Beispiel ausserordentlich viele Migranten via Mittelmeer in Italien landen?
Nein. Zunächst: Damit aus unserer Sicht der Solidaritätsmechanismus greift, muss der Migrationsdruck im Erstaufnahmestaat ausserordentlich hoch sein. Es würde aber auch die Migrationssituation im helfenden Staat berücksichtigt.
Das bedeutet?
Nehmen Sie Polen, das infolge des Ukraine-Kriegs über eine Million Schutzsuchende aufgenommen hat. Auch die Schweiz hat einen wesentlichen Anteil von ukrainischen Schutzsuchenden aufgenommen. In der momentanen Lage finde ich nicht, dass zum Beispiel Polen oder die Schweiz verpflichtet wären, Personen aus Italien zu übernehmen, das deutlich weniger ukrainische Geflüchtete aufgenommen hat. Und selbst im ordentlichen Asylverfahren verzeichnet Italien pro Kopf weniger Asylgesuche als die Schweiz.
Die Schweiz erklärt sich bereit, freiwillig mehr Schutzsuchende aufzunehmen. Die SVP wird es Ihnen im Hinblick auf das Wahljahr danken.
Ich habe gerade versucht, diplomatisch das Gegenteil zu erklären (lacht). Abgesehen vom Krieg in der Ukraine sehen wir im Moment keine Krise, aufgrund der die Schweiz jetzt andere Staaten mit der Übernahme von Migranten entlasten müsste. Aber es könnte theoretisch natürlich eine Konstellation geben – wie beim Syrienkrieg –, die eine zusätzliche Solidarität erfordert. Für mich ist diese Solidarität aber gekoppelt mit dem verstärkten Aussengrenzschutz. Denn wir wollen nicht Menschen in ganz Europa umverteilen, die keine Aussichten auf Schutzgewährung haben, weil sie den Schutz gar nicht brauchen. Darum ist der Aussengrenzschutz ja auch so zentral, er trägt dazu bei, die irreguläre Migration zu bekämpfen.
Kann die Schweiz mitentscheiden, wen sie aufnimmt?
Falls es tatsächlich zu einer Umverteilung kommt, müsste jeder Schengen-Staat seine Aufnahmebedingungen formulieren können. Für die Schweiz kämen – so wie sie das immer gemacht hat – vor allem verletzliche Personen in Frage, Frauen und Kinder, die tatsächlich Schutz benötigen. Es macht keinen Sinn, zum Beispiel Männer aus nordafrikanischen Staaten mit praktisch null Aussichten auf ein Bleiberecht zu verteilen.
Bis Ende Jahr könnten total bis zu 200’000 Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz kommen. Das entspricht der Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt. Macht Ihnen das Sorgen?
Das wäre tatsächlich sehr viel, aber vergessen wir nicht: Wenige Autostunden von uns entfernt gibt es einen Angriffskrieg. Dass so etwas passieren könnte, hat sich niemand vorgestellt. Die Situation ist darum ausserordentlich. Damit wir sie meistern können, müssen alle involvierten Akteure ihre Verantwortung wahrnehmen.
Wird Migration einmal mehr ein bestimmendes Wahlkampfthema?
Ich bin überzeugt, dass die Migration ein Thema sein wird im Wahlkampf. Deshalb ist es auch wichtig, dass die Behörden ihre Aufgaben auf allen Ebenen so gut wie möglich machen. Wir müssen alles daran setzten, dass es nicht zu Missbräuchen oder illegaler Migration kommt. Dazu muss der Schutz der EU-Aussengrenze verstärkt werden. Wer an Leib und Leben bedroht ist und Schutz braucht, den müssen wir schützen. Wer ihn hingegen nicht braucht, muss die Schweiz auch wieder verlassen. Wir – Bund und Kantone – führen Rückführungen konsequent durch, auch wenn diese teilweise sehr anstrengend sind. Wir konnten zum Beispiel im ersten Halbjahr 200 Personen nach Algerien zurückführen, nach einem längeren, coronabedingten Unterbruch und intensivem Austausch. Das ist Knochenarbeit. Ärgerlich ist auch, dass es Staaten gibt, die ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht wahrnehmen. Zum Beispiel nimmt Eritrea keine eigenen Staatsangehörigen zurück, wenn sie nicht freiwillig ausreisen. Das ist völkerrechtswidrig. Aber wir können es nicht einseitig ändern.
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Dernière modification 12.07.2022