Gastkommentar von Bundesrat Beat Jans, 23. Juli 2024: Neue Zürcher Zeitung
Der Bundesrat will die Beziehungen der Schweiz zur EU auf ein neues Fundament stellen. Die Schweiz wird souveräner und handlungsfähiger, wenn sie ihre Beziehungen mit den Nachbarn regelt.
Die Gegnerinnen und Gegner einer Einigung mit der EU sagen schon jetzt Nein. Sie sind überzeugt, dass die Schweiz mit ihren 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern stark genug ist, um sich in einer unübersichtlichen und rauer werdenden Welt, in der mitunter rücksichtslose Machtpolitik betrieben wird, behaupten zu können. Sie preisen den Alleingang und warnen vor einem Verlust an Souveränität, sollten wir uns mit der EU auf ein neues Vertragspaket einigen.
Haben sie recht? Nein, denn in einer vernetzten und komplexen Welt stärkt man die eigene Souveränität, indem man die Beziehungen mit wichtigen Partnern klärt, verstetigt und stärkt. Das gilt ganz besonders für ein kleines Land wie die Schweiz. Wir bleiben (beziehungsweise werden) souveräner – also handlungsfähiger –, wenn wir unsere Beziehungen mit dem grossen Nachbarn regeln. Über das angestrebte Vertragspaket kursieren allerlei falsche Behauptungen. Zum Beispiel, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) künftig bei Streitfragen das letzte Wort haben würde. Das ist schlicht falsch und wird nicht wahrer, nur weil es immer wieder behauptet wird. Der EuGH legt das europäische Recht aus, wie das Bundesgericht das Schweizer Recht auslegt. Über Streitigkeiten würde aber weder das eine noch das andere Gericht entscheiden, sondern ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht.
Verbindliche Regeln, auf die man sich geeinigt hat und auf die man sich auch in ausserordentlichen Situationen verlassen kann, sind wichtig. Bei zwei ungleich grossen Partnern sind sie für den kleineren schon fast existenziell. Denn der grosse kann seine Interessen auch mit Macht durchsetzen. Die Schweiz kennt die Auswirkungen eines solchen «Powerplays» aus eigener Erfahrung: Die Massnahmen der EU gegen die Schweizer Börse, den Schweizer Medtech-Standort und die Schweizer Forschung sind in schlechter Erinnerung. Die Schweiz konnte sie nicht verhindern, weil sich die beiden Seiten bis dato nicht auf ein neues Vertragspaket und damit ein verbindliches Regelwerk geeinigt haben. Mit einer Einigung stärken wir also unsere Souveränität und definieren klare Regeln, die uns schützen. Wir schaffen Rechtssicherheit. Damit Schweizer Wissenschafter mit ihren Kollegen in der EU forschen und unsere KMU mit ihren europäischen Partnern wirtschaften können.
Aber was ist mit der dynamischen Rechtsübernahme, untergräbt sie nicht die Souveränität, werden Gegner einwenden. Tatsächlich würde sich die Schweiz verpflichten, in gewissen Bereichen neues EU-Recht dynamisch zu übernehmen. Die dynamische Rechtsübernahme wäre beunruhigend, wenn sie ein Blankocheck für jegliche erdenkliche Neuregelung wäre. Aber dieses Bild ist falsch: «Dynamisch» heisst nicht «automatisch», und die dynamische Rechtsübernahme käme nur bei neuen EU-Regeln zur Anwendung, die den Zugang zum EU-Binnenmarkt betreffen. Es ist die Schweiz, die diesen Zugang will. Und wir könnten immer auch Nein sagen, zum Preis von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen.
Darüber, was verhältnismässig ist, befindet das paritätische Schiedsgericht nach klaren Regeln. Es sorgt dafür, dass der Schaden, den die EU erleidet, fair ausgeglichen wird. Hier lohnt sich ein Blick auf den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR): Dort ist es nämlich noch nie zu Ausgleichsmassnahmen der EU gegen die EWR-Staaten Norwegen, Island oder Liechtenstein gekommen.
Dass die Rechtssicherheit also unseren Handlungsspielraum vergrössert und damit unsere Souveränität weiter stärkt, ist das eine. Wir haben aber vor allem auch wirtschaftlich ein enormes Interesse an klaren Regeln im Verhältnis zur EU. Denn niemand profitiert mehr vom EU-Binnenmarkt als die Schweiz. Laut einer Bertelsmann-Studie befinden sich sieben der zehn europäischen Regionen, die am meisten vom Binnenmarkt profitieren, in der Schweiz. Die Beteiligung am Binnenmarkt nützt uns mehr als unseren grösseren Nachbarländern. Diese Erfolgsgeschichte ist bedroht. Nichts schwächt unseren Wirtschafts- und Forschungsstandort mehr als Rechtsunsicherheit.
Wohlstand und Zuwanderung
Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Schweiz ist auch eng mit der Zuwanderung verknüpft. Viele denken deshalb bei den Bilateralen vor allem an die Personenfreizügigkeit und den Lohnschutz. Dem Bundesrat ist klar, dass der Lohnschutz gewährleistet bleiben muss. Mitunter wird angesichts der Zuwanderung die Personenfreizügigkeit auch grundsätzlich infrage gestellt: Können wir eine so hohe Zuwanderung auf Dauer bewältigen?
Vorab aber stellt sich eine andere Frage: Warum kommen die Menschen überhaupt in die Schweiz? Die allermeisten von ihnen kommen, weil sie in der Schweiz einen Job haben. Sie sorgen gemeinsam mit der einheimischen arbeitstätigen Bevölkerung für unseren Wohlstand. Dieser Wohlstand ist keine Selbstverständlichkeit. In zahlreichen Branchen ist der Fachkräftemangel bereits Realität, und er wird sich in den nächsten Jahren drastisch zuspitzen. Weil die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, sind wir auf Zuwanderung angewiesen. Das mag abstrakt tönen, ist aber sehr konkret: Allein von den zwischen 2012 und 2021 in der Schweiz neu zugelassenen Ärztinnen und Ärzten haben 74 Prozent ihre Ausbildung im Ausland gemacht.
Was würden wir machen ohne die Fachleute, die in Deutschland, Österreich, Italien oder auch Frankreich ausgebildet worden sind und zu uns kommen? Unser Gesundheitssystem, unsere IT-Branche, unsere Baubranche, unsere Landwirtschaft – wir alle hätten ein Problem. Ein anderes Beispiel: Bei der Post arbeiten rund 47 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie muss in den nächsten sechs Jahren 30 Prozent nachrekrutieren. Diese Beispiele zeigen exemplarisch, wie gross der Fachkräftemangel und wie wichtig Zuwanderung ist. Sie ist nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch eine Bereicherung. Die Schweiz ist auch deshalb so wohlhabend und innovativ, weil wir Menschen willkommen geheissen haben und ihnen die Möglichkeit gegeben haben, sich zu entfalten. Davon profitieren wir alle – die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft lässt grüssen.
Doch eine hohe Zuwanderung bringt auch Herausforderungen mit sich, schürt vielleicht sogar Ängste. Der Bundesrat nimmt dies ernst. Er beabsichtigt deshalb, mit der EU einen mehrstufigen Schutzmechanismus zu vereinbaren, mit dem unter anderem eine Zuwanderung ins Sozialsystem verhindert werden kann. Dabei strebt er auch eine Konkretisierung der bestehenden Schutzklausel an und erarbeitet innenpolitische Begleitmassnahmen: Was können wir gegen die Wohnungsknappheit tun? Wie können wir dafür sorgen, dass Beruf und Familie besser vereinbar werden und mehr junge Eltern arbeiten? Sollen Unternehmen eine Abgabe bezahlen müssen, wenn sie Personen aus Drittstaaten ausserhalb der EU anstellen anstelle von Menschen, die schon da sind? Solche und andere Fragen prüfen wir.
Europa rückt zusammen
Eines lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Die von der SVP geforderte Kündigung der Personenfreizügigkeit ist keine Lösung. Sie würde ohne Not einen vertragslosen Zustand herbeiführen, der eine umfassende Rechtsunsicherheit zur Folge hätte. Ein Blick nach Grossbritannien reicht, um zu sehen, was eine Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU bedeuten würde. Dort hat die Zuwanderung nicht abgenommen, im Gegenteil, sie hat sogar zugenommen. Mehr Menschen kommen nun einfach von ausserhalb Europas.
Der Bundesrat strebt bis Ende Jahr eine Einigung mit der EU an. Er ist überzeugt, dass dies im Interesse der Schweiz ist. Der Bundesrat weiss aber auch um die Emotionalität des Themas und um die Widersprüchlichkeit der Beziehungen zum grossen Nachbarn: Wir profitieren von der Rechtssicherheit und wehren uns gegen das Streitbeilegungsverfahren. Wir profitieren von der Zuwanderung und wollen sie nicht. Wir gewinnen an Souveränität, beklagen jedoch einen Verlust. Umso wichtiger ist eine sachliche und faktenbasierte Diskussion, ohne die EU zum Feind zu machen.
Bald ist der 1. August. Das ist eine gute Gelegenheit, um über die Schweiz und ihre Rolle in Europa und der Welt nachzudenken. Oft stellen wir uns an diesem Tag auch die Frage, was die Schweiz zu unserer Heimat macht. Man könnte die Frage aber auch umdrehen: Wo ist die Heimat der Schweiz? Der Schriftsteller Peter von Matt sagte dazu einmal: «Die Heimat der Schweiz ist Europa.» Geografisch ist das unbestritten. Die Schweiz liegt im Herzen Europas. Doch Europa ist mehr als ein Kontinent. Europa ist ein Friedensprojekt, ein Garant für Stabilität und Prosperität, eine Wertegemeinschaft. Mit unseren Nachbarn teilen wir gemeinsame Sprachen, gemeinsame Erfahrungen, eine gemeinsame Geschichte.
Wenn nun die geopolitischen Spannungen diese europäische Wertegemeinschaft herausfordern, wenn Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine diese sogar frontal angreift, betrifft das nicht nur unsere Nachbarn, sondern auch uns. Wir spüren: Europa ist zusammengerückt – und wir gehören dazu. Natürlich reicht das nicht als alleinige Begründung für ein neues Vertragswerk mit der EU. Aber es schafft eine gute Ausgangslage.
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