"Die vielen Asylgesuche machen mir keine Angst"

Interview, 1. April 2023: Blick; Ruedi Studer

Seit rund 100 Tagen ist die neue SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (59) im Amt. Am 7. Dezember 2022 schaffte die Jurassierin überraschend die Wahl in die Regierung. Sie empfängt Blick in ihrem Büro in Bern zum Interview.

Frau Bundesrätin, die Asylzahlen sind letztes Jahr deutlich gestiegen und in diesem Jahr werden bis zu 40 000 neue Gesuche erwartet. Macht Ihnen das keine Angst?
Nein, das macht mir keine Angst. 40 000 Asylgesuche sind das Maximalszenario, realistischer sind 25 000 bis 27 000 Personen. Wegen des Ukraine-Kriegs ist die Zahl hängiger Fälle gestiegen, doch nun können wir die Pendenzen wieder schneller bearbeiten. Die Unterbringung der Schutzsuchenden bleibt aber eine grosse Herausforderung, die wir nur gemeinsam mit den Kantonen und Gemeinden bewältigen können. Ich bin auch im Gespräch mit Kollegin Viola Amherd, um zusätzliche Kapazitäten für den Sommer zu schaffen, wenn die Zahlen erfahrungsgemäss zunehmen.

Sie wollen mehr Armeeunterkünfte bereitstellen?
Ja, genau.

Auch um die Situation in den Kantonen zu entspannen? Der Fall Windisch hat ja enorme Wellen geschlagen.
Die Kommunikation zwischen den Verantwortlichen war eine Kakofonie, ein grosses Missverständnis. Am Ende blieb aber von der Anfangsthese «Mieter raus, Flüchtlinge rein» wenig übrig. Der Bund hatte nichts damit zu tun, dass der Hauseigentümer seinen Mietern mit der Begründung kündigte, er werde möglicherweise Asylsuchende aufnehmen! Der Fall Windisch ist aber ein Seismograf für Probleme, die wir ernst nehmen müssen. Es geht nicht, dass verletzliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Das Risiko bleibt, dass auch andernorts Mieter rausgeworfen werden, um für Asylsuchende Platz zu schaffen.
Wenn eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern einfach auf die Strasse gestellt wird, ist das ein Skandal. Aber da muss man mit dem Vermieter sprechen. Es hat nichts mit den Flüchtlingen zu tun. Der Hauseigentümer will abreissen und neu bauen. Deshalb hat er seinen Mietern gekündigt. Im Fall Windisch sind Fehler passiert. Die Lehre daraus muss sein, dass es entscheidend ist, dass man stets im Dialog bleibt und ein Vertrauensverhältnis schafft.

Das ist Wasser auf die Mühlen der SVP. Sie selber werden gerade im Wahljahr immer stärker zur Zielscheibe der Partei.
Es ist kein Vergnügen, es macht mir aber auch nicht Angst. Es bestärkt mich vielmehr darin, Lösungen für die Probleme zu finden. Wir müssen die Migrationsfrage auf pragmatische Weise auf europäischer Ebene zu lösen versuchen. Wir müssen das Asylrecht respektieren. Wir müssen jenen Schutz bieten, die ihn nötig haben. Aber auch dort strikt sein, wo es kein Recht auf Asyl gibt. Allerdings: Wenn die SVP mich zur Zielscheibe nimmt, sollte sie nicht vergessen, wer diese Situation verursacht hat: Herr Putin. Er hat einen schrecklichen Krieg vom Zaun gebrochen, der Millionen von Menschen zur Flucht nach Europa - auch in die Schweiz - gedrängt hat.

Apropos Ukraine, Alain Berset sorgte mit seiner «Kriegsrausch»-Aussage für Kritik.
Ich will seine Aussage nicht bewerten. Ich stimme ihm aber zu, dass wir auf Krieg nicht mit Krieg, auf Waffen nicht mit Waffen reagieren sollten. Die Schweiz antwortet mit anderen Mitteln: dem internationalen Recht, mit humanitärer Hilfe und der Aufnahme von Ukrainern. Das ist der Beitrag der Schweiz mit ihrer Neutralität, ihrer Rechtsordnung und ihrer humanitären Tradition. Ich denke, das wollte auch Alain Berset aufzeigen.

Ein anderes Thema: Sie wollen die gewaltfreie Erziehung von Kindern im Zivilgesetzbuch festschreiben.
Damit setzt die Schweiz ein wichtiges Zeichen! Den Kindern fehlt heute eine Lobby. Der Grundsatz einer gewaltfreien Erziehung wertet die Familie auf. Wir wollen die Vorlage noch dieses Jahr ins Parlament bringen.

Bisher argumentierte der Bundesrat, dass das Strafgesetzbuch reicht, weil etwa eine Ohrfeige bereits als Tätlichkeit gilt und angezeigt werden kann. Was ändert sich mit Ihrer Vorlage?
Es geht darum zu zeigen, dass wir als Gesellschaft Erwartungen an die Eltern haben. Die Vorlage will entwürdigende Gewalt auf physischer, aber auch auf psychischer und verbaler Ebene verbieten. Gleichzeitig will sie Kindern und Eltern einen besseren Zugang zu Beratungsstellen ermöglichen, um Gewaltsituationen zu verhindern.

Sie sprechen von «entwürdigender» Gewalt. Dann gibt es «würdige» Gewalt, die zulässig ist?
Das habe ich mich auch gefragt!

Und?
Wenn ein Kind geimpft werden muss und es Angst vor Spritzen hat, halten Sie es auch fest, da-mit es geimpft werden kann. Oder wenn ein Kind auf die Strasse rennen will, ziehen Sie es zurück, damit kein Unfall passiert. In diesen Fällen wenden Sie «legitime» Gewalt an, um das Kind zu schützen. Da müssen wir klar unterscheiden.

Manche Eltern finden, dass ein «kleiner Klaps zwischendurch» nicht schadet. Hetzen Sie nun die Polizei auf sie?
Nein. Weder das Parlament, das dieses Gesetz verlangt hat, noch ich selbst wollen, dass Eltern kriminalisiert werden. Deshalb halten wir es im Zivilgesetz fest. Das Gesetz setzt aber dennoch ein klares Signal, dass Gewalt nicht einfach banalisiert werden darf. Es soll nicht die Art und Weise sein, wie man Kinder erzieht! Kommt hinzu, dass es bei vielen Eltern nicht bei einem Klaps bleibt – leider. In solchen Fällen müssen wir in das Familienleben eingreifen.

Ihnen selbst ist bei Ihren Kindern nie die Hand ausgerutscht?
Nein. Aber ich habe meine Söhne durchaus energisch von einem hohen Baum runtergeholt, wenn sie dort hochkletterten und sich in Gefahr befanden.

Was empfehlen Sie Eltern in heiklen Situationen, um Gewalt zu vermeiden?
Ich mache ja keine Familienberatungen. Aber wenn man in einer Krisensituation merkt, dass man wütend wird, kann man sich auch einmal zurückziehen oder das Kind für ein paar Minuten zum Spielen ins Kinderzimmer schicken, damit man sich beruhigen kann. Oder vielleicht hilft ein Gespräch mit dem Partner, um herunterzufahren. Aber fragen Sie meinen Mann, er hat bei unseren Söhnen mehr Erziehungsarbeit geleistet (lacht).

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