Simonetta Sommaruga, die letzte Wahl zeigte erneut, dass es nicht einfach ist, als Frau in den Bundesrat gewählt zu werden. Wie haben Sie es geschafft?
Am Ende spielen immer viele Faktoren mit. Meine Vorgeschichte als Konsumentenschützerin, National- und Ständerätin hat sicher geholfen. Auch meine Partei hat massgeblich dazu beigetragen. Sie machte klar, dass sie nach Moritz Leuenberger eine Frau im Bundesrat will, und stellte ein reines Frauenticket mit zwei Personen auf. So hatte das Parlament eine Auswahl, aber das Geschlecht war gesetzt.
Dann lag es auch an der FDP, dass bei der letzten Wahl Isabelle Moret, die einzige Frau auf dem Ticket, keine Chance hatte?
Das Vorgehen einer Partei spielt eine wichtige Rolle. Die SP hat aus der Nichtwahl von Christiane Brunner 1993 sicher gelernt. Und eigentlich sollte der Bundesrat die Bevölkerungsstruktur möglichst gut abbilden; das gilt für Regionen und Sprachen, aber eben auch für die Geschlechter.
Nach Doris Leuthards Rücktritt spätestens Ende 2019 könnten Sie als einzige Bundesrätin übrig bleiben.
Ich hoffe wirklich sehr, dass es nicht so weit kommt. Als ich 2010 gewählt wurde, hatten wir erstmals in der Geschichte der Schweiz eine Frauenmehrheit im Bundesrat – leider nur für ein Jahr. Aber ich höre von vielen Seiten, dies sei ein gutes Jahr für unser Land gewesen. Es ist wichtig, dass sich die Bevölkerung in ihrer Vielfalt mit dem Bundesrat identifizieren kann, und dazu braucht es eben mehr als nur eine Frau im Bundesrat.
Was könnte man denn tun, damit die Frauenvertretung etwas konstanter wird?
Es geht ja nicht nur um den Bundesrat. Es gibt noch immer Kantonsregierungen, in denen keine einzige Frau sitzt. Wie soll eine solche Regierung die verschiedenen Erfahrungen und Sichtweisen aufs Leben abbilden? Die Parteien müssen sicherstellen, dass sie genügend gutes, vielfältiges Personal aufbauen, das sie für Parlamente und Regierungen zur Wahl vorschlagen können. Zusätzlich könnte man mit Instrumenten arbeiten, die den Frauenanteil fördern.
Zum Beispiel über eine Quote für den Bundesrat, wie sie etwa die SP-Frauen angeregt haben. Was halten Sie davon?
Wir haben schon heute mehrere weiche Quoten für den Bundesrat: die Zauberformel für die Parteien, die Berücksichtigung der Regionen und der Sprachen – warum nicht auch für die Geschlechterverteilung? Ich möchte dem Parlament nichts vorschreiben, aber die intensiven Diskussionen zu dem Thema nach der letzten Bundesratswahl sprechen für sich.
Könnte man den Bundesratsjob auch anders gestalten, etwa mittels Teilzeit oder Jobsharing? Würde das helfen, dass mehr Frauen vertreten wären?
Bei einem der regelmässigen Treffen der Justiz- und Innenminister in Brüssel tauchte einmal anstelle meines norwegischen Kollegen dessen Staatssekretär auf. Der Minister selbst war im Vaterschaftsurlaub – und das Leben und die Regierungsarbeit gingen trotzdem weiter. So etwas geht also. Allerdings muss man auch sagen, dass das Bundesratsamt mehr ist als ein Job. Das Amt verlangt eine hohe Verfügbarkeit und ein grosses Engagement. Man gibt da wirklich ein Stück seines Lebens dran, und natürlich sind gewisse Abstriche im Privatleben unvermeidlich.
Generell ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oft schwierig.
Unsere Arbeitswelt ist nach wie vor so ausgerichtet, dass am Arbeitsplatz möglichst keine Lücken entstehen. Wenn der Vater einen Tag nach der Geburt seines Kindes wieder am Arbeitsplatz ist, die Mutter hingegen im Mutterschaftsurlaub, ziehen viele Arbeitgeber gerade für Kaderpositionen männliche Arbeitnehmer vor. Auch die Behauptung, Teilzeitarbeit sei mit einer Kaderposition nicht vereinbar, hält sich in unserem Land hartnäckig. Das Resultat sieht man dann in der Chefetage: Neun von zehn Mitgliedern von Geschäftsleitungen börsenkotierter Unternehmen sind Männer. Es verändert sich zwar etwas, aber nur sehr langsam: Wenn es im gleichen Tempo -weitergeht, dauert es etwa noch bis ins Jahr 2150, bis Frauen in diesen Gremien gleich vertreten sind wie Männer.
Wie könnte man das beschleunigen?
Grundsätzlich finde ich, dass jede und jeder sein Berufs- und Privatleben so organisieren können soll, wie sie oder er es will. Der Staat hat da niemandem etwas vorzuschreiben. Aber Väter und Mütter sollten doch zumindest eine echte Wahl haben, und das ist heute bei uns nicht der Fall: Vier von fünf Vätern mit kleinen Kindern sind voll erwerbstätig, und es ist ja klar, wer sich also um die Kinder kümmert. In Norwegen ist das anders: Die Lücke nach der Geburt ist selbstverständlich, bei Vätern und Müttern. Beim Bund gibt es seit zwei Jahren immerhin die Möglichkeit, das Arbeitspensum unbefristet um 20 Prozent zu reduzieren und dabei in der gleichen Funktion zu bleiben, wenn man ein Kind bekommt. In meinem Departement nutzen dies etwa gleich viele Männer wie Frauen, das Bedürfnis ist offensichtlich auf beiden Seiten da.
In der Arbeitswelt scheint eine Schwangerschaft generell eher negativ anzukommen, bräuchten wir da gesellschaftlich eine Änderung der Haltung?
Ich finde nicht, dass eine Schwangerschaft respektive die Geburt eines Kindes so negativ wahrgenommen wird. Aber klar verkompliziert das die Arbeitsorganisation, wie wir sie heute kennen. Laut Obligationenrecht haben Väter nach der Geburt Anspruch auf einen freien Tag. Einen Tag! Dann geht es weiter wie immer. Dabei bedeutet doch die Geburt eines Kindes eine Veränderung für die ganze Familie. Darauf müsste sich die Arbeitswelt einstellen können. Interessant ist, dass es die Arbeitgeber kaum je stört, wenn die Männer wegen des Militärdiensts immer wieder mal fehlen. Dasselbe sollte doch auch möglich sein, wenn ein Kind auf die Welt kommt.
Sind die Männer überhaupt bereit dafür? Eine männliche Führungskraft sagte uns kürzlich: "Väter, die reduzieren und ihre Kinder spazieren fahren, sind Weicheier. Richtige Männer arbeiten 120 Prozent."
Solange das als "normal" gilt, muss man als Vater tatsächlich mit solchen Reaktionen rechnen. Man gilt dann als zu wenig motiviert und uninteressiert an einer Berufskarriere. Kein Wunder, dass viele Männer Hemmungen haben, Zeit für ihre Kinder einzufordern, auch wenn sie diese gerne hätten. Es braucht da Signale von ganz oben in der Arbeitswelt, idealerweise vom Chef oder der Chefin, dass so was selbstverständlich ist. Noch besser, wenn sie es gleich selbst vorleben. So stellen sie klar, dass sie Angestellte, die nach der Geburt das Arbeitspensum etwas reduzieren wollen, nicht als weniger engagiert oder motiviert wahrnehmen.
Sie treten am 4. November bei der Delegiertenversammlung der Migros auf, um über diese Themen zu sprechen. Auch dort sitzen in den obersten Etagen nur wenige Frauen: in der Generaldirektion eine unter sieben, in der Verwaltung zwei von 23. Werden Sie der Migros den Kopf waschen?
(lacht) Dazu werde ich wohl schon eine Bemerkung machen müssen. Angesichts der Kundschaft der Migros, die wohl zu mindestens 50 Prozent aus Frauen bestehen dürfte, ist das doch erstaunlich. Das Wissen, wie diese Zielgruppe tickt, könnte man sich bestimmt gewinnbringend auch in die höchste Führungsebene holen. Aber ich werde sicherlich auch erfahren, was die Migros vorhat, um die Situation zu verbessern.
Der Bundesrat hat dazu generell einen Vorschlag gemacht.
Genau, aber nur für grosse börsenkotierte Unternehmen. Wir wollen auch niemanden zwingen und keine Quote einführen, aber wir wollen die Unternehmen motivieren, sich darum zu bemühen, dass in fünf Jahren beide Geschlechter zu mindestens 30 Prozent in den Verwaltungsräten vertreten sind. Wer dieses Ziel nicht erreicht, erklärt im Vergütungsbericht, weshalb. Nach zehn Jahren sollten dann auch in der Geschäftsleitung beide Geschlechter zu mindestens 20 Prozent vertreten sein. Der Bundesrat sieht das als sanften Anstoss, ganz ohne Sanktionen und Bussen.
Denken Sie, dass Sie damit beim Parlament durchkommen?
Das wird sicher harte Diskussionen geben. Aber auch in der Wirtschaft ist die Geschlechterfrage inzwischen ein echtes Thema: Der weltweit grösste Vermögensverwalter, Black Rock, setzt sich mit seinem ganzen Gewicht dafür ein, dass mehr Frauen in die Verwaltungsräte von Schweizer Firmen kommen. Er verweigert Verwaltungsräten deshalb immer wieder die Unterstützung, wenn im Verwaltungsrat nur Männer sitzen. Die Geschäfte in Firmen mit gemischten Teams laufen einfach besser.
Gleichstellung bedeutet auch Lohngleichheit. Der Bundesrat will grosse Firmen dazu motivieren.
Die Abstimmung zur Altersvorsorge hat gezeigt: Frauen akzeptieren nicht, dass sie ein Jahr länger arbeiten sollen und gleichzeitig beim Lohn diskriminiert werden. Wir haben in den letzten Jahren versucht, die Lohn¬gleichheit zusammen mit der Wirtschaft auf freiwilligem Weg zu erreichen. Diese hat aber ihre selbst gesteckten Ziele nach fünf Jahren deutlich verfehlt. Nun gehen wir einen Schritt weiter: Firmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden – das entspricht etwa zwei Prozent aller Schweizer Unternehmen – sollen alle vier Jahre überprüfen, wie sich ihre Lohnstruktur entwickelt hat. Das Resultat müssen sie öffentlich machen. Und gibt es Differenzen, die sich ausser mit dem Geschlecht nicht anders erklären lassen, müssen sie dazu Stellung nehmen. Es ist eine pragmatische Regelung, für die ich mich einsetzen werde.
Ab Januar gilt neu die Stiefkindadoption: Lesben und Schwule dürfen künftig die leiblichen Kinder ihrer Partner adoptieren. Waren Sie überrascht, dass es nicht gelungen ist, genügend Unterschriften für ein Referendum zu sammeln?
Nein, in dieser Frage hat sich in den letzten Jahren viel bewegt. Als ich Kind war, hat man über Homosexuelle nicht gesprochen, höchstens mal getuschelt, und so weit liegt das noch gar nicht zurück. Seither hat sich die Gesellschaft aber geöffnet, sie geht selbstverständlicher mit dem Thema um, und auch die eingetragene Partnerschaft gibt es inzwischen seit zehn Jahren. Bei der Stiefkindadoption steht nun das Kind im Zentrum. Es soll nicht in Schwierigkeiten geraten, wenn zum Beispiel der leibliche Elternteil stirbt und plötzlich keine rechtliche Verbindung zum oft langjährigen anderen Elternteil besteht.
Dennoch hat man die Adoption beim Partnerschaftsgesetz explizit ausgeklammert. Hat sich seither wirklich so viel geändert?
Es gibt sicher immer noch Kreise, die sich damit schwertun. Aber die Gesellschaft insgesamt hat sich entspannt, auch gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens. Das Konkubinat war in einigen Kantonen noch bis in die 80er-Jahre verboten. Uneheliche Kinder und Scheidungen galten als Schande. Das ist heute alles vorbei. Das Zusammenleben ist vielfältiger geworden, und als Justizministerin ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass sich diese neuen gesellschaftlichen Realitäten auch in unseren Gesetzen abbilden.
Eine solche Anpassung wäre die Ehe für alle – wann kommt sie in der Schweiz?
Inzwischen haben 14 europäische Länder die Ehe für alle eingeführt, sogar das sehr katholische Irland. In der Schweiz wird eine entsprechende Vorlage im Parlament diskutiert, auch der Bundesrat äussert sich dann noch dazu. Wichtig scheint mir, dass man damit niemandem etwas wegnimmt: Männer und Frauen können heiraten wie immer, neu können es einfach auch zwei Männer oder zwei Frauen, die die Verbindlichkeit ihrer Beziehung auf diese Weise -dokumentieren möchten. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass das geltende Recht hier nicht etwas verunmöglicht, was gesellschaftlich längst akzeptiert ist.
Sie sind ausgebildete Pianistin: Welches Lied würden Sie für den neu zusammengesetzten Bundesrat spielen?
Ein Klavierstück von Brahms. Diese Musik ist oft heftig und voller Emotionen, es gibt aber auch leise Passagen. Genau das erhoffe ich mir für den Bundesrat: lebhafte Auseinandersetzungen und dazwischen immer wieder Zeit und Ruhe, um gemeinsam die besten Lösungen für das Land zu finden.
Letzte Änderung 16.10.2017