"Die Initiative der SVP löst kein Problem"

NZZ am Sonntag, Stefan Bühler, Lukas Häuptli
NZZ am Sonntag: "Bundesrätin Simonetta Sommaruga nimmt im Kampf für die Personenfreizügigkeit die Wirtschaft in die Pflicht"

Der Bundesrat lehnt die SVP-Initiative gegen die Massenzuwanderung ohne Gegenvorschlag ab. Gibt es aus Ihrer Sicht denn gar keine Massenzuwanderung?
Die Zuwanderung in die Schweiz war in den letzten Jahren hoch. Die tiefe Arbeitslosenquote zeigt aber, dass der Arbeitsmarkt auf diese Zuwanderer angewiesen ist. Wir sind das wettbewerbsfähigste Land der Welt, und die Zuwanderung hilft uns dabei.

Vielen Leuten wird es aber zu eng in der Schweiz. Auch Ihnen?
Im Sommer übernachtete ich in einer SAC-Hütte, rundum waren Gletscher, Berge, Himmel und sonst nichts. Beim Abendessen fragte mich eine Frau, ob ich nicht auch das Gefühl hätte, es werde langsam eng in der Schweiz. Das Erlebnis zeigt, dass es in der Bevölkerung ein weitverbreitetes Gefühl der Enge gibt. Der Gedanke, dass das mit der Zuwanderung zu tun hat, ist naheliegend, ob er nun zutrifft oder nicht. Aber die Initiative der SVP löst kein einziges Problem. Im Gegenteil, sie schafft nur neue.

Das Volk wird aber auch über die zuwanderungs- und wachstumskritische Ecopop-Initiative sowie über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien abstimmen. Wie wollen Sie die Personenfreizügigkeit in diesen Abstimmungen verteidigen?
Das Bevölkerungswachstum ist eine grosse Chance, um innenpolitisch längst fällige Reformen durchzuziehen. Der Bundesrat kann aber nicht einfach drei Massnahmen aus dem Hut zaubern, und dann sind alle Probleme gelöst. In der föderalistischen Schweiz ist nie nur eine Behörde verantwortlich, sondern Gemeinden, Städte, Kantone, Bund und die Wirtschaft: Sie alle haben wichtige Aufgaben. Das gilt gerade auch, wenn es um die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit geht.

Sie betonen die wirtschaftlichen Vorzüge der Personenfreizügigkeit. Viele Leute finden aber, sie profitierten von diesen Vorteilen gar nicht.
Das stimmt dann, wenn wir nicht gleichzeitig dafür sorgen, dass der Wohlstand gerecht verteilt wird. Und vom Wachstum profitieren wir alle, wenn wir es in die richtigen Bahnen lenken. Das heisst zum Beispiel verdichtet zu bauen und die Energie effizienter zu nutzen. Die Probleme, die das Wirtschaftswachstum mit sich bringt, sind nicht primär auf die Zuwanderung zurückzuführen: Die Zersiedelung hat viel mit mangelhafter Raumplanung in den Kantonen zu tun. Der öffentliche Verkehr kommt an seine Kapazitätsgrenzen, weil viele nicht mehr dort wohnen, wo sie arbeiten. Der Freizeitverkehr belastet die Strassen. Immobilien werden mehr und mehr als Ertragsanlage statt als Wertanlage bewirtschaftet, was die Mieten verteuert. Das alles sind hausgemachte Probleme. Die Zuwanderung führt dazu, dass diese Probleme rascher sichtbar werden und dass wir sie schneller lösen müssen.

Noch einmal: Viele haben das Gefühl, das durch die Zuwanderung erzielte Wirtschaftswachstum nütze ihnen selbst gar nichts.
Es reicht in der Tat nicht mehr, den Leuten zu sagen: Die Wirtschaft will die Personenfreizügigkeit, und ihr habt sie zu akzeptieren. Wir müssen die Wirtschaft in die Pflicht nehmen, damit sie bei der Lösung der genannten Probleme hilft. Ich stelle aber fest, dass viele Wirtschaftsvertreter inzwischen dieses Bewusstsein haben. Man hat zu lange gesagt, die Personenfreizügigkeit sei der Himmel auf Erden und für alle gut. Aber nun das Gegenteil zu behaupten und zu sagen, sie sei an allem Übel schuld, wie das die SVP tut, ist ebenso falsch.

Ihre Partei, die SP, fordert neue flankierende Massnahmen, unter anderem im Wohnungsbau. Was ist zu tun?
Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt tragen viel zum Unbehagen gegenüber der Personenfreizügigkeit bei. Aber auch hier wäre es zu kurz gegriffen, alles auf die Zuwanderung abzuschieben. Der Wohnraumbedarf der Schweizer ist seit den achtziger Jahren um 30 Prozent gestiegen, und wir haben so viele Einpersonenhaushalte wie noch nie.

Wir sollen also in kleinere Wohnungen ziehen, um Platz für die Zuwanderer zu machen?
Das ist eine völlig falsche Verkürzung. Die Wohnungsnot zeichnet sich schon lange ab. Einzelne Kantone und Städte haben bereits gehandelt, andere haben zu lange nichts getan. Auch der Bund wird im Frühling Massnahmen dazu präsentieren. Aber die Wohnungsnot ist nicht nur eine Folge der Zuwanderung.

Aber es gibt einen sehr direkten Zusammenhang: In der Region Zürich und am Genfersee, wo die Zuwanderung am grössten ist, steigen auch die Mieten am stärksten.
In Zürich und in Genf sind die Mietkosten etwa für Familien tatsächlich sehr hoch, das ist ein grosses Problem. Dafür gibt es aber mehr Gründe als nur die Personenfreizügigkeit. Die Schweiz gilt als Hort der Stabilität, darum wird hier Geld placiert, auch im Immobilienmarkt. Das treibt die Preise in die Höhe. Zudem hat man über die Steuerpolitik sehr wohlhabende Personen und ganze Firmen angelockt, die sich hier niederlassen. Das hat mit der Personenfreizügigkeit nichts zu tun.

Sie fordern flankierende Massnahmen im Steuerbereich?
Wenn die gesellschaftliche Akzeptanz für Steuerprivilegien fehlt, geht auch die Bereitschaft der Bevölkerung verloren, die Personenfreizügigkeit mitzutragen. Und die ist für die Wirtschaft viel wichtiger als die Steuerprivilegien.

Wie gut sind die Zuwanderer, die aus Europa zu uns kommen, eigentlich bei uns integriert?
Die meisten sind gut integriert. Die Integration ist wichtig, und die Integration in den Arbeitsmarkt ist das Wichtigste. Das gilt für alle Familienmitglieder, für Männer wie für Frauen. Es kann nicht sein, dass die Frau zu Hause sitzt und weiterhin nur ihre Muttersprache spricht. Nötig ist auch die Integration der Kinder, etwa in den Kindertagesstätten. Darum hat der Bund seine Beiträge für Integrationsmassnahmen erhöht und einen Dialog mit Kantonen, Städten, Gemeinden sowie den Wirtschaftsverbänden gestartet und sich mit ihnen auf konkrete Ziele geeinigt.

Auch die Krippen sollen einen Beitrag zur Integration leisten?
Ja, unbedingt. Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrifft, ist die Schweiz ein Entwicklungsland. Es ist ja erstaunlich, wie Unternehmen plötzlich Kindertagesstätten einrichten und flexible Arbeitszeiten ermöglichen, wenn es darum geht, gute Bedingungen für ausländische Arbeitskräfte zu schaffen. Ich frage mich, warum das nicht auch für Schweizer Arbeitskräfte möglich sein soll.

Sie wollten im Ausländergesetz vorschreiben, dass alle Zuwanderer eine Landessprache lernen müssen. Das Vorhaben ist am Widerstand von Wirtschaft und Kantonen gescheitert.
Ich würde nicht von einem Scheitern sprechen. Wichtig ist aber: Integration kann nicht staatlich verordnet werden. Ich bin aber noch immer der Meinung, dass auch ausländische Führungskräfte von Schweizer Unternehmen eine Landessprache lernen müssen. Es kann nicht sein, dass der ausländische CEO einer Schweizer Firma auf Englisch Interviews gibt. Das zeugt von Missachtung unserer Kultur und von mangelnder Integrationsbereitschaft. Es gibt Parallelgesellschaften auch bei der wirtschaftlichen Elite, das ist nicht gut für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Schweiz.

Der Bundesrat bekämpft die SVP-Initiative gegen die Massenzuwanderung und ist gleichzeitig bereit, mit der EU über die Erweiterung auf Kroatien zu verhandeln. Und das, obwohl die EU alle Dossiers blockiert, die für die Schweiz wichtig sind. Gibt man nicht viel zu schnell nach?
Das ist eine völlig falsche Sicht. Es geht nicht um ein Entgegenkommen gegenüber der EU. Die Schweiz hat schlicht und einfach selber ein Interesse daran, die Personenfreizügigkeit weiterzuführen. Kommt ein neuer Mitgliedstaat hinzu, dann gilt die Freizügigkeit auch für ihn. In der Vergangenheit ist die Freizügigkeit schon zweimal ausgeweitet worden, und die Bevölkerung hat dazu jedes Mal Ja gesagt.

Letzte Änderung 09.12.2012

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