30 Freier pro Nacht, Gewalt, Ausbeutung. Eine neue Zürcher Studie zeigt die dramatische Lage der Prostituierten, von denen viele Opfer von Menschenhandel sind. Angesichts dieser Missstände muss man zum Schluss kommen: Justiz und Polizei haben massiv versagt!
Simonetta Sommaruga: Es stimmt: Wir haben das Problem Menschenhandel lange nicht genug ernst genommen. Deshalb haben wir jetzt einen Nationalen Aktionsplan lanciert. Untätig waren wir aber schon in den letzten Jahren nicht. In meinem Departement gibt es zum Beispiel die Koordinationsstelle gegen Menschenschmuggel. Sie hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Polizei und Staatsanwaltschaften enger mit Opferhilfestellen und Frauenorganisationen zusammen arbeiten. Es gibt auch Kantone, die bereits sehr viel unternommen haben. Andere machen noch zu wenig. Dabei ist der Menschenhandel nicht etwa nur ein Problem der Strassenstriche in den Städten. Auch in den Agglomerationen und in Bordellen auf dem Land gibt es solche Fälle.
Wir stellen eine zynische Behauptung auf: Bisher hat der Menschenhandel viele Schweizer nicht gekümmert, weil die Opfer immer Ausländer sind.
Das glaube ich nicht. Natürlich ist die Bevölkerung nicht direkt betroffen, wie sie es etwa bei Einbrüchen oder Raubdelikten ist. Aber auch die Schicksale von verschleppten Frauen und Kindern gehen jedem Menschen unter die Haut. Ich habe letztes Jahr selbst Opfer von Menschenhandel besucht. Das war ein erschütterndes Erlebnis.
Was haben die Opfer Ihnen erzählt?
Diese Frauen, die meist aus ärmlichen Verhältnissen stammen, werden mit falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt. Hier leben sie dann oft eingesperrt und ohne Kontakte zur Aussenwelt. Sie sprechen unsere Sprache nicht. Die Ausbeuter zerstören systematisch ihr Selbstwertgefühl. Am meisten hat mich beelendet, dass sich die Opfer selbst auch noch schuldig fühlen. Und all das passiert mitten unter uns, in unserem hochzivilisierten Land. Wer davon weiss, dem ist klar, dass dringend mehr dagegen unternommen werden muss.
Sie erwähnten den ersten nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel, den Sie heute Donnerstag vorstellen. Wie soll dieser Abhilfe schaffen?
Das Wichtigste ist, dass überhaupt das Bewusstsein entsteht, dass wir genauer hinschauen müssen. Die Kantone sind am meisten gefordert: Sie sollen so genannte runde Tische bilden, an denen Justiz, Polizei und Frauenschutzorganisationen eng zusammenarbeiten. Nur durch diese enge Zusammenarbeit können Opfer gefunden und Täter gefasst werden.
Ist das föderalistische System mit zwei Dutzend Kantonspolizeien nicht viel zu schwerfällig, um international tätigen kriminellen Netzwerken auf die Spur zu kommen?
Wir müssen uns überlegen, ob nicht auch die Bundesanwaltschaft in grösseren Fällen ermitteln soll, weil diese zu komplex werden können für kleinere Kantone. Prostituierte werden häufig über Kantons- und Landesgrenzen hinweg weitergereicht: Sie sind ein paar Tage in einem Kanton, dann werden sie in einen anderen verfrachtet, dann ins Ausland. Das ist für die Kantonspolizeien schwierig. Aber der Föderalismus hat auch Vorteile: Die kantonal organisierte Polizei kennt die lokalen Verhältnisse gut und weiss, wo sie gegen Missstände vorgehen muss.
Dennoch werden runde Tische allein wohl kaum ausreichen, um das Problem in den Griff zu kriegen.
Es braucht natürlich auch Massnahmen zur Prävention. Ich finde, dass Frauenschutzorganisationen für ihre unersetzlichen Aufgaben finanziell unterstützt werden müssen. Zudem verstärken wir die internationale Zusammenarbeit, um den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Der Nationale Aktionsplan sieht auch eine nationale Kampagne vor, um die Bevölkerung auf den Menschenhandel aufmerksam zu machen. Eine grosse Hilfe ist auch das Zeugenschutzgesetz, das ich im Parlament durchgebracht habe und das Anfang 2013 in Kraft treten wird.
Würde die Schweiz so weit gehen, den Zeuginnen neue Identitäten zu geben und auch ihre bedrohten Familien hierher zu holen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Zeuginnen und Zeugen zu schützen. Den Opfern gleich eine neue Identität zu geben, wäre sicher die extremste Form. Im Normalfall wollen die Frauen zurück und mit ihren Familien in der Heimat leben. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel Rumänien besucht. Es gibt dort staatliche und nichtstaatliche Organisationen, die sich um die Wiedereingliederung verschleppter Frauen und um ihre Sicherheit kümmern. Das ist einer der Bereiche, in denen wir in einer Arbeitsgruppe eng mit den Rumänen kooperieren.
Im Gegensatz zu Rumänien steht die Schweiz international am Pranger, weil sie bisher kaum juristisch gegen die Menschenhändler vorgegangen ist.
Wir haben Fortschritte gemacht beim Schutz der Frauen – zum Beispiel mit dem neuen Gesetz, das harte Strafen vorsieht für Freier, die minderjährige Prostituierte aufsuchen. Und der Wille zu harten Urteilen gegen Menschenhändler ist bei der Justiz da: Das Zürcher Obergericht hat im Sommer einen Zuhälter zu 14 Jahren Haft verurteilt.
2010 gab es schweizweit jedoch gerade mal vier Verurteilungen wegen Menschenhandels, in Rumänien waren es etwa 200.
Das Schlimme ist, dass solche Zahlen bei der Bevölkerung den Eindruck erwecken können, es gebe ja gar kein Problem. Das Gegenteil ist der Fall: Weil Menschenhandel im Verborgenen stattfindet, ist es schwierig, die Opfer zu finden. Es ist ein grosses Problem, an verwertbare Aussagen und Beweise gegen die Täter heranzukommen.
Weshalb denn?
Gerade bei der sexuellen Ausbeutung sind die Opfer meist die einzigen Zeuginnen, die aussagen könnten. Das wissen die Peiniger, sie verprügeln die Frauen und schüchtern sie ein. Es gibt auch Zuhälter, die sich gegenüber Polizisten kumpelhaft geben, um den Frauen zu signalisieren: An die Behörden müsst ihr euch nicht wenden. Die Opfer haben grosse Angst, gegen ihre Peiniger auszusagen. Eine intensive Betreuung ist nötig, damit es diese traumatisierten Frauen überhaupt wagen, auszusagen und mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Macht ein Ermittler einen falschen Schritt, sorgt der Täter dafür, dass die Frau verschwindet. Da bleibt noch viel Arbeit.
Andrea Gisler, Präsidentin der Zürcher Frauenzentrale, nennt die Schweiz ein Dorado für Menschenhändler – weil hier, im Gegensatz etwa zu Schweden, die Prostitution nicht verboten ist. Würde ein Verbot nicht die Attraktivität der Schweiz für Schlepperbanden entscheidend mindern?
Nicht jede Prostituierte ist ein Opfer von Menschenhandel. Aber bei Prostitution ist Gewalt und Unterdrückung häufig im Spiel. Im Mittelpunkt steht daher die Frage, wie wir die Frauen – aber auch die männlichen Stricher – besser schützen können, vor Menschenhandel und anderen Straftaten. Und der Nachweis, dass ein Prostitutionsverbot dabei helfen könnte, ist bisher nicht erbracht. Auch in Ländern, die ein solches haben, ist das Problem mit dem Menschenhandel nicht einfach gelöst.
Sie drücken sich um eine klare Antwort: Ist ein Prostitutionsverbot für Sie als linke Frau nicht denkbar?
Ich drücke mich nicht um eine Antwort: Die Prostitution ist aber eben in den Kantonen geregelt. Sie sind zuständig und erlassen Prostitutionsgesetze, dank denen die Prostituierten zu mehr Rechten kommen sollen. Auf nationaler Ebene stellt sich die Frage eines Prostitutionsverbots derzeit nicht. Wenn es zu einer solchen Diskussion kommen sollte, wird sich der Bundesrat dazu äussern. Wichtig ist, dass wir entschieden gegen Straftaten vorgehen, die es im Milieu der Prostitution gibt, zum Beispiel eben gegen den Menschenhandel.
Ein grosser Teil der Prostituierten, vorwiegend Roma, stammt aus Ungarn. Wieso arbeitet die Schweiz nicht enger mit diesem Land zusammen?
Wir haben mit Rumänien angefangen, weil wir mit den rumänischen Behörden schon gute Kontakte hatten. Es ist aber Teil des Aktionsplans, dass wir das erfolgreiche Kooperationsmodell auch auf andere Herkunftsstaaten der Opfer ausweiten wollen. Aus diesem Grund stehen wir bereits in intensivem Kontakt mit Ungarn.
Dank der bilateralen Verträge können Roma aus EU-Ländern wie Bulgarien oder Rumänien frei in die Schweiz einreisen. Darunter sind laut Bundesamt für Polizei auch Schlepper, die hier Prostituierte und Kinder als Bettler verkaufen. Gibt es angesichts dieses Missbrauchs keine Möglichkeit, die Personenfreizügigkeit einzuschränken?
Es wäre falsch zu meinen, das Problem sei wegen der Personenfreizügigkeit entstanden. Diese Menschen können ja auch illegal oder als Touristen einreisen.
Aber der freie Personenverkehr erleichtert den Schleppern das Handwerk.
Natürlich ist es für Rumänen oder Ungaren einfacher geworden, in die Schweiz zu kommen. Aber Menschenhandel steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit. Es werden ja auch Frauen und Kinder aus Drittstaaten zu Opfern.
Sie sprechen von Kindern als Opfern. So häufig sind bettelnde Roma-Kinder aber in den Städten nicht anzutreffen. Können Sie abschätzen, wie gross dieses Problem tatsächlich ist?
Es ist – wie bei den Opfern sexueller Ausbeutung – fast unmöglich, hier Zahlen zu liefern. Wir sehen auch hier nur die Spitze des Eisbergs. Die Kinder bleiben nie lange in einer Stadt. Das ist typisch für diese Art von Kriminalität: Wenn die Behörden nach drei Tagen auf ein Kind aufmerksam werden und sich fragen, zu wem es überhaupt gehört, ist es schon wieder weg.
Die CVP wollte in einer Motion verbieten, dass Kinder betteln dürfen. Wieso ist der Bundesrat – wie bei den Prostituierten – gegen ein Verbot? Damit würde doch die Schweiz weniger attraktiv werden für Menschenhändler.
Die gesetzlichen Grundlagen für die Bestrafung der Menschenhändler sind vorhanden. Das Problem liegt auch hier darin, dass es schwierig ist, die Opfer zu finden. Wenn Kinder unbegleitet in der Schweiz sind, wenn sie gekauft worden sind wie eine Ware, dann ist es eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, sie aus den kriminellen Netzwerken herauszubekommen. Es braucht eine sorgfältige Vorbereitung: Können diese Kinder in ihr Herkunftsland zurückkehren? Haben sie dort überhaupt noch eine Familie? Ist es zu verantworten, dass sie zu den Eltern zurückkehren, die sie ja vielleicht verkauft haben? Oder müssen sie in ein Heim? Das sind schreckliche Situationen. Ein Bettelverbot hilft da nichts.
Letzte Änderung 18.10.2012