Referat von Staatsrätin Jacqueline de Quattro

Bern. Pressekonferenz vom 21. Oktober 2008 zur Volksabstimmung vom 30. November 2008.

Meine Damen und Herren,

der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch ist ein Anliegen, das niemanden kaltlässt. In jüngster Zeit haben zahlreiche, medienwirksam behandelte Fälle allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Dabei standen wir immer wieder vor ein und derselben Frage: Wie können wir Derartiges künftig verhindern?

Im März 2006 reichte der Verein «Marche Blanche» als mögliche Antwort auf diese Frage bei der Bundeskanzlei eine Volksinitiative mit dem Titel «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» ein. Das Initiativkomitee ist der Ansicht, die strafrechtliche Verjährung von Sexualdelikten an Kindern begünstige diese Art von Taten, weshalb es ausreiche, diese kurzerhand abzuschaffen.

Indessen ist eine fehlende Verjährung, wie Bundesrätin Widmer-Schlumpf bereits ausgeführt hat, keine gute Lösung. Einerseits wird damit über das Ziel hinausgeschossen, andererseits würde der unpräzis formulierte Wortlaut der Initiative deren Umsetzung derart erschweren, dass ihr eigentlicher Zweck verfehlt würde.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten kommt der Initiative zugestandenermassen der Verdienst zu, einen Mangel des geltenden Verjährungsrechts sichtbar zu machen: Die Verjährungsfristen sind zu kurz. In der Tat ist den Kindern, die sexuelle Übergriffe erlitten haben, mehr Zeit für die Entscheidung zur Strafanzeige einzuräumen. Womit rechtfertigt sich nun aber die Ungleichbehandlung von Erwachsenen und Kindern bei der strafrechtlichen Verjährung? Die Gründe sind zahlreich und leicht zu verstehen: Zunächst einmal ist ein Kind zuweilen nicht reif oder erfahren genug, um die Verwerflichkeit der erlittenen Handlung zu erkennen. Zweitens kann es sich zwar des Missbrauchs bewusst, aber dennoch nicht in der Lage sein, etwas zu unternehmen; häufig ist es ja gefühlsmässig oder wirtschaftlich vom Täter abhängig oder wird von diesem bedroht, wodurch es sich zum Schweigen genötigt sieht. Schliesslich kommt es auch vor, dass junge Opfer die Missbräuche aus einem Schutzreflex heraus verdrängen – sie tun dann so, als wäre nichts geschehen. Aus all diesen Gründen wird ein Kind, das Opfer sexueller Übergriffe wurde, sein Schweigen nur sehr spät brechen können, nicht selten erst beim Wegzug aus der Familie.

Das Gesagte spricht zwar für eine Verlängerung der Verjährungsfrist für die Strafverfolgung von Sexualdelikten an Kindern, nicht aber für deren vollständige Abschaffung. Mit Ausnahme weniger Straftatbestände (Genozid, Terrorismus, Kriegsverbrechen), unterliegen sämtliche Delikte der Verjährung; dieser Ansatz ergibt sich aus den Strafverfolgungsmaximen – wie z.B. Beschleunigungsgebot, Sachverhaltsabklärung, Effizienz usw. – und zielt darauf ab, dem Täter, der lange Zeit keine Straftaten mehr begangen hat, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Infolgedessen ist die Frage der strafrechtlichen Verjährung nicht nur mit Blick auf das Interesse des Opfers an einer längeren Verjährungsfrist, sondern auch mit Blick auf das Interesse der Strafgerichtsbarkeit an der effizienten Verfolgung und Ahndung der Straftaten zu klären. In dieser Hinsicht berücksichtigt der indirekte Gegenvorschlag diese grundsätzlich gegensätzlichen Interessen in ausgewogener Art und Weise –deshalb macht diese Lösung auch Sinn.

Der Gegenvorschlag weist zudem weitere wichtige Vorzüge gegenüber der Initiative auf; ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich hier auf zwei davon eingehen, die mir besonders bedeutungsvoll erscheinen: 

  • Erstens beschränkt der Gegenvorschlag die längere Verjährungsfrist nicht ausschliesslich auf Sexualdelikte, sondern sieht deren Ausdehnung auf schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit vor. Tatsächlich lässt sich kaum nachvollziehen, weshalb für körperliche Misshandlungen nicht dasselbe gelten soll wie für sexuellen Missbauch; entsprechend sind beide Arten von Übergriffen im Gesetz gleich zu behandeln.
  • Zweitens ist im Gegenvorschlag der Kreis der Opfer, denen längere Verjährungsfristen eingeräumt werden, genau umschrieben, und zwar sind das Kinder unter 16 Jahren. Der Initiativtext spricht – ich möchte hier daran erinnern – von Kindern «vor der Pubertät». Die Anwendung dieses Pubertätsbegriffs würde in der Praxis zu kaum überwindbaren Beweisschwierigkeiten führen. Wie soll beispielsweise nach vierzig Jahren mit Sicherheit festgestellt werden, dass sich das Opfer zum Zeitpunkt der Tat noch nicht in der Pubertät befand? In Anbetracht dieser nicht unerheblichen Schwierigkeit leistet ein objektives Kriterium wie das Alter des Opfers bessere Dienste. Ich möchte ausserdem darauf hinweisen, dass dadurch eine Ungleichbehandlung unter den Opfern ausgeschlossen wird, was bei Anwendung des Pubertätskriteriums nicht der Fall wäre, da – wie jeder weiss – das Eintrittsalter in die Pubertät sehr individuell ist.

Dies sind die Hauptgründe für mein Ja zum indirekten Gegenvorschlag und mein Nein zur Volksinitiative. Ich möchte es noch einmal betonen: Die Volksinitiative abzulehnen bedeutet nicht, Kinder nicht besser gegen Missbrauch schützen zu wollen – ganz im Gegenteil. Ein Nein zur Initiative erlaubt das Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlags, der wie gesagt die Befürchtungen des Initiativkomitees optimal aufnimmt, dabei aber ausgewogener und effizienter ist.

Aus all diesen Gründen empfehle ich Ihnen im Einklang mit Bundesrat und Parlament die Initiative zur Ablehnung.

Letzte Änderung 21.10.2008

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