"Diese Initiative ist undemokratisch"

Neue Zürcher Zeitung; Kathrin Alder, Christof Forster
Neue Zürcher Zeitung: "Für Martin Dumermuth, Direktor des Bundesamts für Justiz, beschränkt die Selbstbestimmungsinitiative die Flexibilität der Schweiz."

Herr Dumermuth, alle Parteien ausser der SVP lehnen die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) ab. Dabei will sie nur die Verfassung als oberste Rechtsquelle festschreiben. Was ist daran verkehrt?
Dass die Verfassung in der Normenhierarchie zuoberst steht, gilt bereits heute. Die Behörden dürfen keine internationalen Verträge abschliessen, die gegen die Verfassung verstossen. Die Initiative verlangt aber einiges mehr, als nur die Verfassung als oberste Rechtsquelle festzuschreiben. Sie will einen starren Mechanismus einführen, um bestimmte Verträge zu kündigen. Und sie will, dass die Schweiz gewisse Verträge nicht mehr einhält. Ausserdem ist die SBI widersprüchlich. Auf der einen Seite verlangt sie, die Verfassung müsse über dem Völkerrecht stehen. Gleichzeitig sagt sie aber, völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterstanden haben, müssten von Gerichten und Behörden angewendet werden – selbst wenn sie gegen die Verfassung verstossen. Dies führt zu Unsicherheit.

Aber Fakt ist nun einmal, dass das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht nicht klar geregelt ist.
Innerhalb einer Normenhierarchie sind Spannungen und Divergenzen immer möglich, und man muss sie lösen. Wir haben dafür Regeln, die uns eine gewisse Flexibilität lassen. Das Bundesgericht hat eine Praxis entwickelt, die anerkannt und sehr flexibel ist. Die Aussage der Initianten, mit dem Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2012 habe sich alles geändert, ist schlicht falsch.

Wieso? Immerhin sagte das Bundesgericht damals, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehe im Falle eines Konflikts mit Verfassungsrecht der Verfassung vor.
Das Bundesgericht hat in diesem Urteil seine sogenannte Schubert-Praxis zusammengefasst. Diese besagt, dass Völkerrecht grundsätzlich vorgeht, ausser der Gesetzgeber weicht bewusst von diesem Grundsatz ab und nimmt eine Verletzung des Völkerrechts in Kauf. Ferner hat das Gericht bestätigt, dass Bundesgesetze und Staatsverträge anzuwenden sind, selbst wenn sie der Verfassung widersprechen. Das steht seit 1874 so in unserer Verfassung. Bis heute konnte mir noch niemand erklären, was sich 2012 geändert haben soll.

Es braucht also keine strikte Regel, wie wir Konflikte zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht auflösen sollen?
Im Gegenteil. Je grösser die internationale Verflechtung, desto flexibler müssen wir reagieren können. Man hat schon mehrfach versucht, eine Regelung ins Gesetz oder in die Verfassung zu schreiben. Jedes Mal hat man mit guten Gründen darauf verzichtet.

Zum Beispiel bei der letzten Totalrevision der Verfassung, über die wir 1999 abgestimmt haben. Seither hat sich die Welt verändert, Verflechtung und Komplexität haben zugenommen.
Genau deswegen müssen wir unser flexibles System erhalten. Es funktioniert nicht, einer wachsenden Komplexität mit Schematismen zu begegnen. Die Welt wird nicht einfacher, nur weil wir starre Regeln in die Verfassung schreiben. Die Initianten suggerieren, sie würden die Möglichkeit zur Kündigung einführen und der Schweiz die Freiheit zurückgeben, die sie angeblich verloren hat. Das stimmt nicht. Bevölkerung und Parlament können schon heute verlangen, dass die Schweiz Staatsverträge kündigt. Dies muss man aber bewusst tun – in einem demokratischen Verfahren.

So, wie es die SVP mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen machen will?
Genau. Mit der Kündigungsinitiative beweisen die Initianten doch gerade, dass unser heutiges System funktioniert. Wer einen Vertrag nicht mehr möchte, kann dessen Kündigung verlangen.

Sie sagen also, die Initiative sei unnötig. Schaden tut sie aber offenbar auch nicht?
Doch. Das Hauptthema der Initiative ist letztlich, dass sie die Kündigung eines Vertrags als Kollateralschaden in Kauf nimmt. Hinzu kommt, dass wir uns teilweise nicht mehr an geltende Verträge halten sollen. Dies in die Verfassung zu schreiben, ist hochproblematisch, denn es geht auch um das Signal, das wir aussenden. Kein Unternehmen schreibt in seine Statuten, es halte sich unter Umständen nicht an Verträge. Sonst hat es ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Im Kern geht es bei der SBI doch um die Angst davor, dass unsere direktdemokratischen Instrumente ausgehöhlt werden.
Offenbar besteht ein Bedürfnis nach Regeln, das man nicht einfach mit juristischen Argumenten abtun kann.
Hier werden zwei Dinge angesprochen, zum einen die Souveränität, zum anderen die direkte Demokratie. Das Argument der Souveränität halte ich für schief. Souveränität heisst nicht Bindungsfreiheit. Es ist wie bei der Privatautonomie: Diese nutze ich als Einzelner, um Verträge abzuschliessen, die in meinem Interesse sind. Sollte sich das ändern, kann ich sie kündigen. Gleiches gilt für den Staat und seine Souveränität. Die Schweiz schliesst einen Vertrag nur ab, wenn er für uns von Vorteil ist.

Und die direkte Demokratie?
Es gibt kein anderes Land, das beim Abschluss von Verträgen eine derart ausgebaute direkte Demokratie kennt wie die Schweiz. Unsere Verträge sind direktdemokratisch abgesichert: Haben sie den Gehalt eines Gesetzes, unterliegen sie dem fakultativen Referendum. Haben sie Verfassungsgehalt, dann dem obligatorischen Referendum.

Die Initiative macht die Aussenpolitik also nicht demokratischer?
Nein, im Gegenteil. Mit einem starren Kündigungsautomatismus wollen die Initianten jeglichen Handlungsspielraum einschränken. Bevor wir kündigen, müssen wir aber demokratisch über die Vor- und Nachteile einer Vertragsauflösung diskutieren können. Ich bin überzeugt: Diese Initiative ist undemokratisch.

Werden wir etwas konkreter. Angenommen, das Stimmvolk heisst die Selbstbestimmungsinitiative gut. Müssten Sie dann jeden völkerrechtlichen Vertrag darauf hin prüfen, ob er gegen die Verfassung verstösst?
Es ist ja nicht so, dass die Schweiz in der Vergangenheit ständig Verträge abgeschlossen hat, die gegen die Verfassung verstossen. Ich glaube also nicht, dass eine Welle von Kündigungen auf uns zukäme. Für mich stellen sich vielmehr Fragen für die Zukunft: Wann nimmt die Bevölkerung bei der Annahme einer Initiative eine Kündigung in Kauf? Nehmen wir das Beispiel Minarett-Initiative. Die Schweizer Stimmbevölkerung wollte keine neuen Minarette, was aus EMRK-Sicht problematisch ist. Wollte die Bevölkerung mit dem Ja zur Minarett-Initiative aber auch gleich die EMRK mit all ihren Menschenrechten kündigen?

Müssten wir die EMRK bei der Annahme der SBI denn kündigen?
Die Initianten verlangen, dass wir einen völkerrechtlichen Vertrag bei einem Widerspruch mit Verfassungsrecht nachverhandeln und nötigenfalls kündigen. Aber was heisst das? Reicht ein abstrakter Widerspruch? Oder braucht es, etwa im Falle der EMRK, ein entsprechendes Urteil aus Strassburg? Und was heisst nachverhandeln? Es ist aussichtslos, multilaterale Verträge wie die EMRK oder die WTO-Abkommen nachverhandeln zu wollen. Nach der Logik der SBI müssten wir in solchen Fällen kündigen. Das Ganze bleibt aber unklar.

Die Initianten kritisieren, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) agiere immer interventionistischer.
Aus Schweizer Sicht sollten wir Augenmass halten: Lediglich 1,6 Prozent aller Beschwerden gegen die Schweiz werden gutgeheissen. Es gab wohl eine Phase, in der Strassburg den Blick etwas geschärft und genauer hingeschaut hat. Seit einigen Jahren geht die Tendenz aber in die entgegengesetzte Richtung. Der Gerichtshof konzentriert sich wieder mehr auf das Wesentliche und betont seine Subsidiarität. Und vergessen wir nicht: Viele Urteile gegen die Schweiz haben Positives gebracht. Der EGMR hat für die Freiheit der Medien oder für die Asbestopfer Stellung bezogen und etwa im Bereich der Sozialversicherung den Rechtsschutz wesentlich verbessert.

Kommen wir zu einem anderen Thema: Der umstrittene Steuerdeal steht im Parlament kurz vor dem Abschluss. Ihr Amt hat ein Gutachten erstellt, das besagt, die Vorlage verletze die Einheit der Materie nicht.
Die Diskussion um die Einheit der Materie wird oft zu wenig differenziert geführt. Dieser Grundsatz ist im Zusammenhang mit der Initiative auf Teilrevision der Verfassung entstanden. Das Verfahren ist dabei einfach: Einige wenige können einen Text formulieren, über den schliesslich das Stimmvolk befinden muss. Dieser Text soll sich auf eine Materie beschränken. Beim Gesetzgebungsverfahren ist das anders: Ein demokratisch gewähltes Parlament hat den Auftrag, zu wichtigen Fragen demokratisch Lösungen auszuhandeln. Das Verfahren ist viel aufwendiger. Wäre man ebenso strikt wie bei der Initiative, käme das einem Kompromissverbot gleich. Der Gesetzgeber könnte so seinen verfassungsmässigen Auftrag gar nicht erfüllen.

Die Einheit der Materie gilt also nicht für Gesetze?
Sie gilt auch für die Gesetze, aber modifiziert. Man muss zwischen zwei Verfassungsgrundsätzen abwägen: dem Recht auf freie Willensbildung einerseits und dem Verfassungsauftrag des demokratisch gewählten Parlaments anderseits.

Angenommen, das Parlament hätte die Steuerreform mit Tempo 140 auf der Autobahn verknüpft . . .
. . . das ginge nicht.

Wieso nicht?
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, eine solche Verknüpfung wäre völlig konstruiert und sachfremd. Es geht nämlich nicht, dem Stimmbürger künstlich ein Zückerli vorzusetzen und ihm damit eine Lösung zu verkaufen, die er sonst nicht annähme.

Es gibt Stimmen, die sagen, dies sei bei der jüngsten Steuervorlage der Fall.
Nein, eben nicht. Hier geht es darum, dass man sich im Parlament überhaupt einigen kann. Entscheidend ist auch der Kontext: Die Vorlage ist letztlich eine Antwort auf die Ablehnung der USR III. Damals hiess es, das grosse Problem sei der fehlende soziale Ausgleich. Dieser Ausgleich wurde nun zentral. Auch das Bundesgericht prüft jeweils, ob eine Lösung einem "übergeordneten Ziel" folgt oder ob es um eine "künstliche" Verknüpfung geht. Es geht hier nicht um Verführung des Stimmbürgers, sondern um einen Kompromiss.

Das ist eine politische Einschätzung. Schliesslich gäbe es ja auch eine rein bürgerliche Mehrheit.
Es ist eine politische Einschätzung des Parlaments, was möglich, sachgerecht und politisch realisierbar ist. Und genau das ist seine Aufgabe.

Die Leiterin Ihres Departements, Simonetta Sommaruga, ist für die Vorlage. Wie unabhängig können Sie in dieser Frage überhaupt agieren?
Die politische Haltung der Departementschefin war hier nicht entscheidend. Wenn wir eine Frage rechtlich beurteilen, tun wir das unabhängig.

Letzte Änderung 19.09.2018

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